Ach, was ist Venedig doch schön. Schön alt, schön prachtvoll, schön sonnig, vor allem aber: schön ruhig. Vereinzelt fahren Boote durch die Lagune, während Einheimische beim Espresso an der Uferpromenade unter sich bleiben. Die Straßen sind verkehrsarm, die Plätze geordnet – von wegen Kreuzfahrtinvasion, Besucherschwemme, Bausubstanzgefährdung. Wie zwanzig Jahre zuvor ist Venedig auch 2019 ein idyllisches Dorf, das selbst im Centro Storico freie Trattoria-Plätzchen bereithält, vor denen Venezianer wild gestikulieren und überhaupt alles wie früher ist. Zumindest am Bildschirm.

Um die angeblich überfüllte Sightseeing-Metropole wieder lebenswert zu machen, bedarf es nämlich weder Bürgerprotesten noch Citymaut, geschweige denn Zugangsbeschränkungen; um in der massentouristischen Vorhölle für Ruhe zu sorgen, reicht schon ein Finger auf der Fernbedienung, (normalerweise) donnerstagabends, Erstes Programm, bei Commissario Brunetti, dem deutschesten TV-Ermittler Italiens. Noch. Denn am 1. Weihnachtstag quittiert der Cottbusser Uwe Kockisch nach 22 Einsätzen den venezianischen Polizeidienst. Und er hinterlässt dem öffentlich-rechtlichen Fernsehfundus zwar ein heillos überzuckertes Image seiner fiktionalen Stadt, aber gewiss keine Lücke. Im Gegenteil.

Anspruchsvollere Zuschauer dürften der ARD-Reihe um die berühmteste Romanfigur der amerikanischen Bestsellerfabrikantin Donna Leon kaum eine Träne nachweinen, wenn sie gegen 21.45 Uhr gramgebeutelt, aber erfolgreich in Rente geht. Guido Brunetti – das war ja schon in den ersten vier, qualitativ etwas hochwertigeren Ausgaben mit Joachim Król als Titelheld ein Inbegriff des kriminalistischen Eskapismus, der keinem wehtun will und gerade deshalb so schmerzt. Das gilt natürlich auch für den Abschlussfall "Stille Wasser" – wie immer inszeniert von Sigi Rothemund, der seine Karriere 1973 mit Arthaus-Kino wie "Geh, zieh dein Dirndl aus" begonnen hatte.

Unter seiner Regie setzt der Commissario halbwegs von einem Burnout genesen zur Regeneration aufs malerische Santa’Erasmo über, wo ihn der schrullige Imker Davide (Hermann Beyer) eigentlich zur Ruhe bringen soll. Dummerweise liegt er vier Tage später tot in der Lagune, was – so scheint es – mit einem Umweltskandal zusammenhängt. Venedigs größte Insel versorgt den früheren Stadtstaat schließlich mit Gemüse, für dessen Produktion ruppige Bauern über Bienenleichen gehen und sorglos Gift versprühen. Der anfangs glasklare Fall, so viel sei verraten, findet zwar ein unerwartetes Ende; er zeigt aber aufs Neue, dass sich heute nicht nur Kockischs Brunetti verabschiedet, sondern ein Pionier.

Als der vor 19 Jahren erstmals einen Mord aufklärte, waren deutsche Schauspieler als Polizisten nämlich noch in Deutschland tätig, wo sie mit anderen Deutschen meist Deutsch sprachen. In "Vendetta" dagegen spielten deutsche Darsteller durchweg Italiener, die untereinander allerdings ebenso akzentfreies Deutsch sprachen wie ihre Kollegen von "Großstadtrevier" bis "Tatort". Weil sie dennoch ständig Drehortworte von "Signora" bis "Scusi" ins Herkunftsidiom mischten, klang das mitunter unfreiwillig komisch, also: lächerlich; aber es diente ja einem berechenbaren Zweck.

Die Reihe war schließlich unverhohlene – und vermutlich mit allerlei Produktionshilfen vergoltene – Werbung für den touristischen Hotspot, der damals offenbar noch Fremdenverkehrsreklame gebrauchen konnte. Und das machte bald Schule. Sechs Jahre nach Venedig bekam auch das nahgelegene, ähnlich pittoreske Triest kostenlose ARD-PR in der werbefreien Zeit nach den Hauptnachrichten. Ab 2006 gab Henry Hübchen fünf Episoden lang "Commissario Laurenti", dem 2008 der türkische Bayer Erol Sander zur "Mordkommission Istanbul" folgte, bevor Francis Fulton-Smith kurz darauf als "Kommissar LaBréa" in Paris debütierte, 2016 jedoch zum "Athen-Krimi" wechselte. Zu jener Zeit wurde es voll auf der deutschen Krimiweltkarte im Ersten: Auf Bozen-Krimi folgten Tel-Aviv-Krimi, Urbino-Krimi, Lissabon-Krimi, Barcelona-Krimi, Island-Krimi, Zürich-Krimi, zuletzt Irland-Krimi. Und überall wiederholte sich dasselbe Muster.

Wo immer Deutsche Ausländer im Ausland spielen, bilden sie wenig mehr als die Kulisse billiger Publikumssehnsüchte ab. Weshalb Kommissar Dupin in der Bretagne ständig in die Brandung starrt und sein Pariser Kollege LaBréa auf den Eifelturm. Auch Commissario Brunettis Venedig entspringt daher keiner Wirklichkeit, sondern einer öffentlich-rechtlichen Reiskatalogfantasie, in der es weder Touristen noch Kreuzfahrtschiffe gibt und der Himmel nur dann bewölkt ist, wenn dramaturgisches Unheil droht. Die Bösen halten darunter ihre Zigaretten zwischen Daumen und Zeigefinger, während die Guten zur Begrüßung stets sagen, wer, was und wo sie sind. Und weil Michael Degen als Brunettis Vorgesetzter dafür langsam zu alt war, gibt seine Sekretärin (Annett Renneber) nun allein eine Ulknudel vom Dienst, die keinem Auslandskrimi fehlen darf.

In dieser fiktionalen Ödnis müht sich der ausdrucksstarke Uwe Kockisch längst vergebens um Atmosphäre, gar Niveau. Sein Ruhestand ist ihm also wirklich zu gönnen. Und zur Beruhigung aller Fans dieser exotischen Formatklammer: Die Thinktanks der ARD sondieren den Globus längst nach potenziellem Ersatz. Es droht also ein Montreal-, wenn nicht gar Mumbai-Krimi. Und spätestens, wenn der Klimawandel Grönland enteist hat, drängt sich dessen Hauptstadt Nuuk förmlich auf.