Als Sat.1 im vergangenen Jahr angekündigt hat, "Big Brother" mit einer Normalo-Staffel zurückzuholen, wirkte das erst einmal sehr anachronistisch. Ein rund 20 Jahre altes Format soll Sat.1 dabei helfen, am kriselnden Vorabend wieder Fuß zu fassen? Doch in Unterföhring vertraute man auf die starke Marke "Big Brother", die auch heute noch im ganzen Land bekannt ist. Im Vorfeld versprach der Sender, die Show zeitgemäß zu adaptieren - inzwischen können die Zuschauer die Bewohner im Haus wie Amazon-Produkte bewerten. Das allein sorgte in der ersten Woche aber noch nicht für gute Quoten. Alle Tageszusammenfassungen erreichten weniger als acht Prozent Marktanteil in der Zielgruppe. 

Doch die Bewertungen der Zuschauer sind noch das geringste Problem, das Sat.1 in den ersten Tagen mit der aktuellen Staffel hat - im Gegenteil. Hier gibt es die größten Hoffnungen. Vielmehr haben sich die Macher der Realityshow offenbar ein bisschen zu sehr darauf verlassen, dass die Bewertungen schon ausreichend Veränderungen sind, um ein großes Publikum anzulocken. War das eine Fehleinschätzung? Eine endgültige Antwort darauf wird freilich erst in einigen Wochen möglich sein, doch für den Anfang wirkt es, als hätten sich Endemol Shine Germany und Sat.1 so stark auf das Konzept der Bewertungen konzentriert, dass alles andere ein wenig aus dem Blick geraten ist. 

Das begann schon mit der Einzugsshow, die so ähnlich auch vor zehn Jahren hätte laufen können. Drei Stunden und zäh wie Kaugummi zog sich die Live-Sendung, in der jeder Kandidat ausführlich vorgestellt wurde, im Studio mit Jochen Schropp talkte und dann auch noch in einem kleinen Golfcart von "Late Night"-Moderatorin Melissa Khalaj auf dem Weg zum Haus interviewt wurde. Und natürlich kamen auch Freunde und Familie der jeweiligen Bewohner zu Wort. Sat.1 muss sich die Frage stellen, ob eine solche Einzugsshow im Jahr 2020 wirklich noch angemessen ist, steigen andere Formate - und im Übrigen auch der erfolgreiche Promi-Ableger - doch deutlich rasanter ein.  

Big Brother

Und auch in den Tageszusammenfassungen herrscht viel business as usual. Das ist natürlich auch ein Stück weit dem Konzept der Sendung geschuldet: Wenn 14 Menschen, die sich zuvor nicht kannten, gemeinsam in ein Haus - oder besser gesagt: in zwei Häuser - ziehen, müssen sie sich erst einmal kennenlernen. In der ersten Ausgabe am Vorabend war für die Zuschauer dann folgerichtig wenig zu sehen. Was hängen blieb? Cedric weiß nicht, was hetero bedeutet, sagt aber, viele würden ihn für schwul halten. Tim ist nicht schwul (wäre gerne bi), aber der schwule Pat hätte das bei Tim erwartet. Und dann stellt Cedric Pat gleich am ersten Tag die wichtigste aller Fragen: Top oder Bottom? 

Evolution statt Revolution

Im Jahr 2000 läutete "Big Brother" zweifelsohne eine neue Generation von Reality-Fernsehen ein - doch diese Vorreiterrolle von einst könnte dem Format womöglich zum Verhängnis werden. Inzwischen gibt es einfach viele andere Formate, die deutlich härter in Art und Schnitt sind, sodass "Big Brother" inzwischen beinahe wie das zurückhaltende Mauerblümchen wirkt, das langsam erwachsen geworden ist. Evolution statt Revolution. Ob das für den Sat.1-Vorabend reicht, darf man hinterfragen. Da erscheint es wenig hilfreich, jeden Tag eine Sendung auf die Beine stellen zu müssen, wenn dafür streng genommen zu wenig (gutes) Material vorhanden. Da muss man fast dankbar für die Entscheidung sein, auf die Wochenendausgaben verzichtet zu haben.

Und während in anderen Reality-Formaten wie dem "Sommerhaus der Stars" bei RTL oder auch "The Circle" von Netflix gefühlt keine Minute vergeht, ohne dass etwas passiert, zeigt "Big Brother" Bewohner, die zusammen Nudeln kochen, Hühner taufen und mit kleinen Raupen sprechen. Diese Art von Fernsehen hat 2000 funktioniert, 20 Jahre später aber nicht mehr. 

Cast und Bewertungen machen Hoffnung

Doch es gibt durchaus Hoffnung für die aktuelle "Big Brother"-Staffel. Schon nach einer Woche lässt sich erkennen, dass die Bewertungen der Zuschauer etwas mit den Bewohnern machen. Die Anzahl der Sterne sowie die eingeblendeten Kommentare sind das Thema Nummer eins - selbst im Blockhaus, wo die Bewohner gar nicht mit den Bewertungen konfrontiert werden. Da ist es schon fast schade, dass es zwei Bereiche gibt und die Hälfte der Bewohner gar nicht in den zweifelhaften Genuss der Zuschauer-Meinungen kommt. Mehr Zündstoff wäre dadurch ganz sicher möglich.

Ohnehin gibt es noch einige Spielmöglichkeiten für die Macher: Wieso die Kommentare der Zuschauer nicht dauerhaft auf allen Bildschirmen im Glashaus einblenden? Oder den Bewohnern auch mal ihre eigenen Szenen im Haus zeigen, die Auswirkungen auf das Sterne-Voting gehabt haben könnten? 

Loben muss man Sat.1 und Endemol Shine bis dato für den guten Cast, der vielfältig ist und durchaus stimmig wirkt - erst recht, weil auf mehr oder weniger bekannte Influencer, die im Netz schon kleine Berühmtheiten sind, verzichtet wurde. Nur schade, dass kein älterer Kandidat mit dabei ist. Nicht ausgeschlossen also, dass "Big Brother" im Laufe der Zeit noch spannender wird und die noch sehr verhaltenen Quoten beflügeln. Dass der Große Bruder zwei Jahrzehnte nach der ersten Staffel längst kein Selbstläufer ist, hat die erste Woche jedoch schon mal eindrucksvoll bewiesen.