Okay, ich hab’s verstanden! Außer mir, das haben mir die meisten meiner Mitbewohner eines dänischen Ferienhauses mehr als einmal klargemacht, gucken nur zwei Personen eurer Umgebung ARD oder ZDF: Oma und Opa. Samstags die "Sportschau" einzuschalten ist ebenfalls eher Berti Vogts als Lionel Messi, also mediales Ordovizium, aus dem auch mein Hang zum nächtlichen Zapping stammt, obwohl es meist weit vor den Privatsendern endet. Und wie bitteschön kann man sich die neuesten Corona-News nicht als RSS-Feed aufs Touchpad pushen, sondern per "Tagesschau" ins Wohnzimmer? Wann immer die Generationen X bis Z meinen TV-Habitus kommentieren, komme ich mir vor wie ein Homo Erectus unter Weltraumtouristen. Vor meinem Sessel steht schließlich nicht nur ein alter Apparat, ich schalte ihn auch öfter an und schaue – um Apples Willen – lineares Programm.

Mea Culpa!

Denn bis tief in die Siebzigerjahrgänge urbaner Schichten hinein gibt es bei aller Individualität einen unumstößlichen Konsens: wer fernsieht, nur Serien. Wer Serien sieht, gestreamte. Wer streamt, doch bitte illegal. Punkt, pardon: dot! Wer sich dagegen erdreistet, zur regulären Anstoßzeit auch nur Arte, geschweige denn RTL zu nutzen, gilt im besten Fall als konservativer Lemming des diktatorischen Zwangsgebührenwerbespotsystems, im Regelfall als reaktionärer Nerd, der auch mit TUI nach Thailand fliegt, sobald das wieder möglich ist.

Weil Digital Natives oder Ältere, die sie habituell simulieren, eine fast obsessive Verachtung gegen Zeitvertreib hegen, der nicht aus den Serverparks des Silicon Valley stammt, grassiert analog zur Flugscham ein neues Selbstkasteiungsphänomen: Fernsehscham. Wessen Sendesignal aus Mainz, wenn nicht gar Köln-Deutz stammt, gilt daher als unterhaltungswertkonservative Couch Potatoe vom Traumschiffdeck, als dort noch Sascha Hehn servierte. Wie analog? Wie antiquiert? Wie immobil?

Wie selbstgerecht und arrogant!

Dafür muss man sich nur mal das Nutzungsverhalten wesensdigitaler, fortschrittlicher, hochmobiler Medienuser ansehen. Nächte-, bei Regenwettergar tagelang sitzen sie auf etwas, das dem Kampfbegriff nach doch für TV-Kartoffeln reserviert ist: dem Sofa. Und dort betreiben sie dann etwas, das man "Online-Cocooning" nennen könnte, dreidimensionales Einigeln vorm zweidimensionalen Bildschirm – nur, dass der dabei nicht zwingend mit anderen geteilt wird und falls doch, eher nebeneinander. Auch wenn der alte Videoabend nun "Netflix-and-Chill" heißt, beinhaltet er ja allenfalls optionales Abwenden vom Bildschirm, vom Verlassen der Wohnung ganz zu schweigen.

Laut einer Studie des Bundesumweltamtes sorgen heimische Internetaktivitäten dafür, dass junge Menschen mehr noch als ihre Großeltern auch vorm Shutdown schon "inhäusige Aktivitäten" bevorzugt haben. Die "Stiftung für Zukunftsfragen" hat passenderweise ermittelt, dass sich der Anteil Jungerwachsener, die zum abendlichen Zeitvertreib noch ausgehen, seit 2004 halbiert habe. Selbst Twentysomethings bleiben demnach tendenziell daheim, wo sie sich vermutlich selten auf Kanthölzer setzen, sondern – genau: Polstermöbel. Hier wird dann gemeinsam bingegewatcht, wie es ein deutsches Pärchen 2014 beim 36-stündigen Kampfgucken von 51 Folgen "Walking Dead" am Stück tat. Oder man hackt sich selbst unter den Liebsten mutterseelenallein durch Milliarden von Online-Videos.

Abgesehen vom algorithmischen Filter, mit dem Techkonzerne von Google bis Facebook das vermeintlich unstrukturierte Nutzungsverhalten geldwert vorformatieren, gleicht es dem linearen damit mehr, als libertäre Websurfer glauben. Und es hat einen Nebeneffekt, den die Heilslehre vom Individualismus häufig hat: es zerstört unsere Lebengrundlagen. Schließlich ist das Internet mittlerweile für ein Zehntel des weltweiten Stromverbrauchs zuständig, wovon Videos wiederum 80 Prozent ausmachen. Allein Pornoportale waren 2018 für 82 Megatonnen CO2 verantwortlich. Und alle Streams zusammen haben kurz vor der virenbedingten Sperrung des Himmels die (ebenso rasant steigenden) Treibhausgasemissionen des globalen Flugverkehrs überholt – wobei der Video-Anbieter Amazon ganze 17 Prozent seiner Kraft aus regenerativen Quellen erzeugt.

Das öffentlich-rechtliche Lagerfeuer hat sich zum klimakatastrophalen Flächenbrand ausgewachsen, die couchpotatoekritische "taz" riet kürzlich gar zur "Stream-Scham" – und da war noch gar nicht vom inhaltlichen Kahlschlag die Rede. Denn keine Online-Plattform muss ja seriöse Nachrichten oder auch nur journalistischen Content durch Entertainment querfinanzieren. Die 7.000 Netflix-Mitarbeiter etwa haben überwiegend fabrizierende, statt redaktionelle Funktionen, müssen ihr Angebot also eher akquirieren als kuratieren. Wobei Amazon Prime Video dafür auch noch der unerschöpfliche Etat eines amoralischen Onlinehändlers zur Verfügung steht oder DAZN das Festgeldkonto eines sportversessenen Milliardärs. Und mit dem Blockbusterbestand von Disney+ können werbe- oder gebührenfinanzierte Konkurrenten schon gar nicht mitbieten.

Sicher, nur weil sich das Angebot der Portale finanziell von Marktgesetzen entkoppelt hat, muss niemand kreuzbraves ARZDF-Historytainment, gar "Um Himmels Willen" anstelle famoser Video-on-Demand-Formate erdulden; doch mit etwas Empathie kann ein Abend mit Arte (oder dessen hervorragender Mediathek) durchaus den Blick für die Kapitallogik des digitalen Geschäftsmodells schärfen. Während uns Netflix, Amazon, Apple, Disney und all die Nischenplayer von TNT bis joyn+ bis zum totalen Overkill mit sündhaft teurer Fiktion fluten, sind staatsvertraglich geregelte Sender nämlich zur dramaturgischen Dosierung für alle verpflichtet.

Was am zeitgebundenen Programmschema umsichtiger Redakteure spießiger sein soll als am Abfahrplan von Bus und Bahn, der abseits der vielgescholtenen Einschränkung persönlicher Entscheidungshoheit ja auch ein wenig Verlässlichkeit in den Alltag bringt, erscheint in diesem Licht schwer prinzipiengesteuert. Und lässt außer Acht, wie entspannend es sein kann, sich den Abend nicht von der impulsiven Filterblase strukturieren zu lassen. Und sei es mit Omas.