"I Am Not Okay With This" hat auf den ersten Blick alles, was mindestens einer der Zuschauerlieblinge "The End Of The F***ing World" und "Stranger Things" auch hat: Depressive Jugendliche, einen Titel, der als eigenständiger Satz funktioniert und übernatürliche Kräfte, die Nasenbluten verursachen. Plot Twist: Das Produzententeam von "Stranger Things" hat den Regie-Posten für "I Am Not Okay With This" mit Jonathan Entwistle besetzt, der bereits "The End Of The F***ing World" inszeniert hat. Netflix hat sich also seine erfolgreichsten Zutaten geschnappt und sie für einen vermeintlich nächsten Hit vermischen wollen. "Wer sich dies angeschaut hat, findet auch jenes gut" in Perfektion, quasi. Ist es schlimm, dass funktionierende Storys zu "Super-Serien" angerührt werden soll? Und noch viel wichtiger: Geht die Rechnung wirklich auf?
Er funktioniert in erster Linie vor allem über Neugier. Fans der beiden genannten Netflix-Hits sind es gewohnt, Binge-Storytelling vom feinsten serviert zu bekommen, das nie mit spannenden Auflösungen geizt. Dementsprechend ist ein Mädchen, das in der ersten Szene blutüberströmt im Nachthemd im "Martyrs"-Style über den kalten Asphalt spaziert, ein mehr als eindeutiger Hinweis darauf, dass diese Geschichte noch mächtig spannend wird. Vor allem, wenn sie im nächsten Moment an einen Zeitpunkt der Erzählung springt, wo nach alles genauso normal ist, wie in jeder Pubertät.
Denn genau darum geht es in "I Am Not Okay With This" im Grunde, um Sydneys Weg ins Erwachsenendasein: "Ich bin ein weißes, 17-jähriges Mädchen und nichts besonderes". Natürlich ist sie etwas besonderes, da sie nach nur kurzer Zeit dafür sorgt, dass der neue schwanzgesteuerte Geliebte ihrer Freundin völlig aus dem Konzept gebracht wird, weil seine Nase plötzlich anfängt zu bluten. Oder, weil sie den nervigen, tropfenden Wasserhahn mit ihren Gedanken zum Stillstand bewegt. Ein bisschen Eleven steckt in ihr, das weiß der Zuschauer genauso schnell, wie Sydney (Sophia Lillis, "Es") selbst.
Doch würden diese kleinen, übernatürlichen Elemente im ersten Drittel der Story fehlen, würde sich rein gar nichts am Aufbau von "I Am Not Okay With This" ändern. Sydneys Leidensgeschichte durch hormonell verwirrte Freundinnen, eitrige Pickel, geistesabwesende Elternteile, erste Rummachversuche und spontan auftretende Aggressionsausbrüche, ist der Kern einer jeden Coming-of-Age-Erzählung, der an vielen anderen Stellen schon deutlich besser zum Blühen gebracht wurde.
Sydney ist die Ur-Pubertierende, die jeden von sich stößt, der sich im Grunde um ihre Gefühle schert. Dann wundert sie sich, warum sie so alleine ist. Nicht in jedem Fall kann man ihr die Schuld geben: Ihre Freundin entwickelt eine Vorliebe für Trottel, ihre Mutter sagt ihr, es sei etwas "viel verlangt", sie zurück zu lieben und der schrullige Nachbarsjunge (Wyatt Oleff, "Es") verliebt sich in sie, ohne dass sie die Gefühle erwidern kann. Während Lillis in idealer Manier die Person mimt, die nicht weiß, wie sie ihre Gedanken ordnen soll, stellt Oleff in sympathischer Weise den typischen, netten Kerl von nebenan dar, der bei den meisten Frauen höchstens als bester Freund landen kann.
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Um eine der vorangegangen Fragen aufzunehmen: Nein, es ist nicht schlimm, zwei erfolgreiche Serien zu einer neuen vereinen zu wollen. Doch im Fall von "I Am Not Okay With This" ist dadurch auch nichts aufregend neues entstanden, sondern eine vor sich hinschleichende Suche nach sich selbst – wie immer. Wie immer wird ein Teenager gezeigt, der zunächst alles auf eigene Faust schaffen möchte, ehe er realisiert, dass Glück und tiefste Zufriedenheit nur durch andere Menschen entstehen kann.
Hier ist der vermeintliche Twist, dass Sydney ihre Umwelt in emotional schwierigen Momenten mit psychotelekinetischen Kräften ins Wanken geraten lässt. Das sieht natürlich cool aus, doch die kleinen Fetzen an Mystery, die vor allem in der ersten Hälfte der Staffel zur dürftigen Brotkrümelspur gelegt werden, sind im Grunde genau das, was "The Walking Dead" so erfolgreich gemacht hat. Dort passiert auch nicht viel, was man den Zuschauer mit einem gehörigen Cliffhanger zum Ende einer jeden Folge gerne vergessen lässt.
Mit jeder Episode wachsen Sydneys Kräfte, was immer bedrohlichere Ausmaße annimmt. Schön ist, dass ihre Ausbrüche auch als Metapher für psychische Erkrankungen bei Jugendlichen genommen werden kann. "I Am Not Okay With This" zeigt, wie jeder Teenager während seiner Pubertät sein soziales Leben auf die Reihe bekommen muss, während im Kinderzimmer noch die Hausaufgaben warten. Das ist zu der Zeit gar nicht so einfach, wenn das Wesen noch nicht gefestigt und anfällig für emotionale und mentale Instabilität ist.
Was die Serie von anderen Coming-of-Age-Erzählungen unterscheidet, ist der hervorragende Cast. Lillis Spiel mit ihren Gesichtszügen hat bereits den ersten Teil von des "Es"-Remakes um eine dramatische Note bereichert. Immer, wenn die Serie einer gewissen Monotonie verfällt, sorgt sie im Zusammenspiel mit Oleffs leichten und komödiantischen Auftritten für die nötige Ablenkung. Sie ist eine moderne "Superheldin", der man gerne folgt, egal wie (un)erfrischend das Drehbuch ist.
Die siebenteilige erste Staffel von "I Am Not Okay With This" steht ab sofort bei Netflix zum Streaming zur Verfügung.