Bereits im Juni 2019 schaffte es die von Talpa Germany für RTLzwei produzierte Langzeitdokumentation "Das Berlin-Projekt" und damit dessen Protagonist Marcus T. in die Boulevardpresse. "Er wollte ins Fernsehen und landete in der Hölle" titelte die B.Z. damals. Für PR dienen die Berichte von vor eineinhalb Jahren heute freilich nicht mehr, immerhin aber noch als Teaser direkt zu Beginn der ersten von vier Folgen der neuen RTLzwei-Dokumentationsreihe. Marcus T., 43 Jahre alt, ist einer von sieben Obdachlosen in Berlin, die sich über einen langen Zeitraum von Kameraleuten, Redakteuren und Sendungshost Tim Niedernolte haben begleiten lassen.

Ziel der Sendung ist es, den Obdachlosen einen Weg aus ihrer vermeintlich ausweglosen Situation zu zeigen. Zu helfen, aber freilich auch zu dokumentieren, welche Schicksale sich jeden Tag in Deutschland abspielen. Alleine in Berlin gäbe es, so wird in der Sendung mehrfach erwähnt, über 10.000 Obdachlose. Jeder von ihnen hat eine eigene Geschichte, oftmals gibt es Bruchstellen in den Leben, Momente, die Vieles schlechter machen. Bei Marcus war es eine Leukämie-Erkrankung schon in der Kindheit – diagnostiziert mit neun Jahren. Marcus' weiterer Weg führte den Obdachlosen in die Drogensucht und bis ins Gefängnis.

Filmische Dokumentation sozial Schwachgestellter ist mittlerweile eines der Kerngenres der RTLzwei-Primetime. Als die Aufnahmen für das "Berlin Projekt" begannen, feierte der Sender bereits veritable Erfolge mit Reportagen wie "Hartz und herzlich" und "Armes Deutschland". In den zweieinhalb Jahren, die inzwischen seit dem Drehstart des "Berlin Projekt" vergingen, folgten weitere Formate dieser Programmfarbe, "Hartz Rot Gold" etwa oder "Hartes Deutschland". Die neue Talpa-Produktion schlägt zwar freilich in eine ähnliche Kerbe, ergänzt das Programm aber dennoch um eine neue und durchaus spannende Facette.

Das Berlin Projekt © RTLzwei Tim Niedernolte trifft die 18 Jahre alte Ronja, die auf der Straße lebt, aber an einer Schriftsteller-Karriere auf Wattpad arbeitet

Zum einen ist es das erste Sozialformat des Senders, das mit einem On-Air-Host arbeitet, zum anderen wird hier nicht nur dokumentiert, sondern durch Eingreifen der Produktion versucht, etwas zu bewegen. Der Reihe nach: Der eigentlich vom ZDF bekannte Tim Niedernolte wird in der Sendung wie eine Art großer Bruder, als Lenker und Mutmacher positioniert. Er soll die Protagonisten begleiten und macht allen direkt zu Beginn ein verlockendes Angebot. Es ist kein Koffer voller Chancen, kein Koffer mit einem Batzen Bargeld, sondern ein kleines Buch, liebevoll gestaltet und Telefonnummern von Experten beinhaltend sowie die Möglichkeit, von der Produktion 10.000 Euro Budget zu erhalten, um ihre Situation (nachhaltig) zu verbessern. Soweit, so stimmig. "Wo ist der Haken?", fragt in diesem Moment die ebenfalls teilnehmende Evi und bekommt direkt die Antwort von Niedernolte, dass - wenn überhaupt - sie selbst der Haken wäre.

Recht sollte er behalten – denn wie auch schon aus RTLs "Zahltag" bekannt, verlaufen die Pläne der drei in der ersten Sendung auftauchenden Protagonisten alles andere als gradlinig und linear. Es ist eine Reise mit vielen Unwägbarkeiten und in Lebenswelten, die auf anderen Sendern so nicht auftauchen. Der verranzte Aufkleber "Bier ist mein Yoga" an der Tür einer der besagten Wohnungen spricht dabei Bände.

Nun, ohne Haken kommt das Format nicht aus. Fraglich, ob es eine wirklich kluge Entscheidung war, gleich die Geschichte von sieben Schicksalen erzählen zu wollen – in vier Folgen. Im ausländischen Original, die Produktion wurde in den Niederlanden als "Amsterdam Projekt" bekannt, fokussierten sich die Macher auf fünf Obdachlose. Andererseits: Vielleicht wäre den deutschen Machern bei nur fünf Geschichten schlichtweg zu früh der Stoff ausgegangen.

Denn es sind nur winzig kleine Schritte und kaum sehbare Erfolge, die in den ersten 90 Minuten der Sendung abgebildet werden. Hier mal ein abgeholter Personalausweis, da mal eine Geschäftsidee. Das Gros der Sendung bildet aber der strukturlose Alltag der Protagonisten, die sich immerhin darauf verlassen können, dass Niedernoltes Experten-Team einspringt, wenn die Krankenkasse meckert oder die Toilette übel verstopft ist.

Dass es ähnlich gut läuft wie nach dem Einsatz des herbeigerufenen Klempners, wünscht man sich als Zuschauer. Doch Sozialarbeiter müssen eben Geduld aufbringen. Geduld, die Zuschauer mit der Fernbedienung in der Hand mitunter nicht haben. Vielleicht auch deshalb wurde seitens der Produktion im Vorfeld schon mal die hereinbrechende Hölle für Marcus angekündigt, wenngleich die Macher sich das entsprechende Szenario noch für die ausstehenden Folgen aufgespart haben.

"Das Berlin Projekt" verleiht dem Sozialdoku-Genre und somit auch der RTLzwei-Primetime eine neue Facette. Denn wissen will man durchaus, ob zumindest ein oder zwei Protagonisten am Ende vom Projekt und den Bemühungen von Niedernolte und dessen Team profitieren werden. Der erste Eindruck aber sieht nicht danach aus. Ob das auch den Erfolg der gesamten Sendung gefährdet? Auch davon könnte RTLs "Zahltag", das in seiner zweiten Staffel mit ähnlich inspirationslosen Teilnehmern arbeitete, ein Liedchen singen. Die Quittung waren maximal zehn Prozent Zielgruppen-Marktanteil bei der TV-Ausstrahlung. 

RTLzwei zeigt vier Folgen von "Das Berlin Projekt" ab Donnerstag, 7. Januar 2020, wöchentlich um 20:15 Uhr. 

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