Langzeitstudent Vince verliebt sich über Nacht in Robbie, ohne viel von ihm zu wissen, während sein langjähriger Mitbewohner Levo ins doch etwas spießige Haus seines Freundes Tom zieht, der dort bis vor kurzem noch mit Frau und Kind gelebt hat. Sie erzählt von Begegnungen, Abschieden und Neuanfängen, die erste Staffel des von UFA Fiction und ARD Degeto für die ARD Mediathek produzierten „All you need“. Es ist die erste queere deutsche TV-Serie, wenn wir denn alle zusammen beschließen, die aus heutiger Sicht grausame Sat.1-Comedy „Bewegte Männer“ von vor 18 Jahren zu vergessen.

Die neue ARD-Serie ist glücklicherweise anders. Sie unterhält, schmerzt manchmal und macht am Ende der leider nur fünf Folgen umfassenden ersten Staffel Lust auf mehr, aber die wertvollste Eigenschaft von "All you need" ist die Erlösung: Sie spiegelt mit einer manchmal vielleicht banal wirkenden Selbstverständlichkeit das schwule Leben im heutigen Deutschland mit allen Chancen und auch Rückschlägen. Es war höchste Zeit. Klar, bei nur 5x 25 Minuten wird man - wenn man es drauf anlegt - genügend Aspekte finden, die man in der neuen ARD-Serie vermissen kann.

Aber „All you need“ ist ein starker erster Aufschlag und ja, für mich auch die besagte Erlösung. Geht es nicht auch eine Nummer kleiner, fragen Sie? Nein. Weil ich mich noch gut daran erinnern kann, wie ich als Heranwachsender oft beschämt war, wenn homosexuelle Figuren in Filmen und Serien auftauchten - insbesondere, wenn man zusammen mit Eltern oder Freunden ferngesehen hat. Oft überzeichnet dargestellt, entweder extra albern oder sehr tragisch. Schwul oder lesbisch sein, war oft schon die komplette Rollenbeschreibung. Queer zu sein war immer Thema, nicht selbstverständlich.

Heute können sich queere Teenager selbstbestimmt ein Bild machen von der Welt. Das Fernsehen oder Kino sind in Zeiten des omipräsenen Internets nicht mehr dieser von wenigen Redakteuren und noch weniger Redakteurinnen kontrollierte Flaschenhals durch den der Mehrheit des Publikums die Sicht auf die Welt vermittelt wird. Früher aber konnte jede peinliche queere Rolle in einer TV- oder Film-Produktion die Vorurteile bzw. das bestehende Bild von queeren Menschen festigen. Da saß man ungeoutet ganz beschämt auf dem Sofa oder Kinosessel. Danke für nichts, dachte ich mir oft.

Nach dem Coming Out wurde es nicht besser, weil die medialen Vorlagen für queere Rollen im deutschen Fernsehen lange die gleichen blieben. Der Unterschied nur: Jetzt wurde das gezeigte schwule Leben in Film und Fernsehen ganz offen auf einen selbst projiziert. Wer man ist als schwuler Mann wird außerhalb des persönlichen Umkreises von der Darstellung in den Medien geprägt und viel zu oft fühlt man sich eher peinlich berührt. Natürlich gibt es auch ganz wundervolle, einfühlsame Filme. Aber die waren nur in der Community selbst ein Begriff. Mir geht es um Mainstream, das was ein breiteres Publium erreicht.

All you need © ARD Degeto/Andrea Hansen Levo (Arash Marandi) macht ein Selfie mit Tom (Mads Hjulmand)

Und da kommt jetzt also die ARD, leider nicht mit einer Ausstrahlung im Ersten sondern on demand in der Mediathek, aber das soll zunächst einmal dem Werk an sich nicht angekreidet werden. „All you need“ zeichnet ein Bild vom schwulen Leben in Deutschland, das nah dran ist an der ganzen Bandbreite der Realität zwischen Partyleben und Häuslichkeit, schnellem Sex und komplexen Familienstrukturen einer offeneren Gesellschaft - und vielem mehr. „All you need“ ist die schwule Serie, die ich mir und meinem Umfeld vor 20 Jahren gewünscht hätte.

Man kann nun sagen, dass wir als Gesellschaft - und das durchaus aus global betrachtet - damals einfach noch nicht so weit waren. Das ist nicht von der Hand zu weisen, aber würde außer Acht lassen, dass 1999 der öffentlich-rechtliche Sender Channel 4 in Großbritannien mit dem von Russell T. Davies erfundenen „Queer as folk“ eine schwule Serie zur besten Sendezeit ausstrahlte, natürlich begleitet von konservativer Empörung. Umso ärgerlicher eben, dass „All you need“ 2021 in der Mediathek zwar ein wichtiger Spiegel für die queere Community ist, die sich hier wiederfinden kann, wenn sie danach sucht.

Aber erst eine lineare Ausstrahlung im Hauptprogramm des Ersten hätte den öffentlich-rechtlichen Auftrag in Gänze erfüllt. Privatsender können agieren nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, also immer mehr von dem Produzieren, was nachgefragt wird. Social Media hat diese Entwicklung beschleunigt: Wir alle bekommen immer nur noch mehr von dem, was wir wollen. Und um etwas zu wollen, muss ich es kennen. Kenne ich etwas nicht, kann ich es nicht wollen. Es gehört zur einzigartigen Stärke des linearen Fernsehens mit Programmgestaltung an Themen heranzuführen.

„Anne Will“ würde am Sonntagabend kein so großes Publikum haben, wäre sie nur on demand in der Mediathek verfügbar. Nein, sie profitiert vom davor laufenden „Tatort“. Auf Unterhaltung folgt Information, auch an vielen anderen Stellen in öffentlich-rechtlichen Programmen ist zu sehen: Populäres schiebt Gehaltvolleres an. Wo gerade so viel über den Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen diskutiert wird, ist diese Dynamik das gehaltvollste Argument für Unterhaltung als fester Bestandteil des Programmauftrages. „All you need“ im Hauptprogramm statt digitalem Spartensender One - das wäre nicht nur ein Spiegel für die Community sondern ein Fenster für die Mehrheit da draußen gewesen, die sonst nicht vertraut ist mit schwulem Leben.

„All you need“ ist eine Soap über das Leben, mit Hauptfiguren „who happen to be gay“ - die eben zufällig schwul sind. Die Selbstverständlichkeit der Grundprämisse lässt aufatmen: Es geht um den Alltag. Dass die meisten Charaktere schwul sind, ist hier kein Gimmick. Jahre über Jahre waren queere Rollen immer verbunden damit, ein Statement zu setzen. Immer aufgeladen mit der Erwartung entweder der lustige schwule Freund, der gemobbte Homo, die ausgegrenzte Lesbe oder der um Akzeptanz kämpfende Transmensch zu sein. Endlich einmal bleibt am Ende nicht das Bild stehen, Homosexualität sei eine ständige Bürde. 

All you need © ARD Degeto/Andrea Hansen Es ist kompliziert: Vince (Benito Bause) und Robbie (Frédéric Brossier)

Andererseits - und das ist die Qualität von Benjamin Gutsche, der mit „Arthurs Gesetz“ schon einen spektakulären Erstaufschlag als Autor hatte - schafft es „All you need“ trotzdem, ganz konkrete Themen aufzugreifen, die spezifisch schwule Männer und ihr Liebesleben ansprechen. Rollenklischees, die außen aber auch innerhalb der Community existieren, sind ebenso Thema wie der Umgang mit der oftmals speziellen Dating-Situation schwuler Männer, bei der der zweite Schritt dank berüchtigter Dating-Apps vor dem ersten erfolgt. Aber auch die eigene Sozialisierung und der äußere Einfluss darauf, spielen eine Rolle. 

Erzählt wird all das in einem bemerkenswerten Tempo auch wenn sich die Hochglanz-Soap immer wieder auch bewusst Zeit nimmt für kunstvoll inszenierte Szenen, die den Look prägen. Dazu kommen Charaktere, denen Autor Benjamin Gutsche in der Kürze dieser ersten Staffel erstaunlich viel Tiefe und Überraschungen gibt. Eine zweite Staffel ist bestellt, wird noch dieses Jahr gedreht. Das Staffelfinale wirft genügend Fragen dafür auf - und ein leerstehendes WG-Zimmer gilt es noch zu vermieten. 

Die fünf Folgen der ersten Staffel "All you need" sind in der ARD-Mediathek verfügbar. One zeigt die Serie an zwei Abenden (16./17. Mai). Eine zweite Staffel ist bereits bestellt.

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