Klischees sind hybride Wesen. Sie helfen dabei, Dinge einzuordnen, aber auch auszusortieren. Sie schaffen Struktur und zerstören dieselbe. Sie sorgen für Vorurteile und Verständnis, Nestwärme und Herzenskälte, Schutz und Abwehr. So sind Klischees auf integrierende Art exklusiv oder umgekehrt und besetzen damit bisweilen Freundeskreise, die es so vermutlich nur am Bildschirm geben kann. Den der ZDFneo-Serie "Deadlines" zum Beispiel.

Dort erscheint ab Freitag in der Mediathek und ab kommendem Dienstag dann auch in ZDFneo der Öko-Hipster Lena, die fast jedem Substantiv ein "*innen" anhängt und überhaupt so achtsam ist, dass es achtlose Menschen ganz wuschig macht. Menschen wie das Ghetto-Kid Elif, die fast jedem Substantiv ein "Wallah" anhängt und überhaupt so derbe ist, dass es grazile Menschen ganz wuschig macht. Menschen wie der Instagram-Star Franzi, die ihre Follower mit Glücksanleitungen versorgt und überhaupt so kontrollsüchtig ist, dass es unkontrollierte Menschen ganz wuschig macht. Menschen wie den Sozial-Fall Jo, die Briefe ungeöffnet im Schrank ihrer Sozialwohnung lagert und überhaupt so viel Brennpunkt verströmt, dass klischeehaft hier noch untertrieben wäre.

Solche Figuren in derselben Blase zu verorten, erfordert schon einiges an kreativer Improvisationsfähigkeit. Dank der jedoch hat das Autorenduo Johannes Boss und Nora Gantenbrink aus vier Rohdiamanten kleine Juwelen gemacht, die auch wegen ihrer Verschiedenheit so tragikomisch glitzern. Als sich Lena, Elif, Franzi und Jo 16 Jahre nach dem Schulabschluss im gentrifizierten Frankfurter Mischviertel Goldstein wiedertreffen, hat das Leben nämlich für jede von ihnen gleichermaßen absehbare wie überraschende Wendungen vorgesehen.

Elif ist Brokerin mit Wohnsitz Finanzviertel, Franzi ist Influencerin mit Wohnsitz Gartenviertel, Jo ist eine Tagediebin mit Wohnsitz Plattenbauviertel, Lena ist Lehrerin mit Wohnsitz Szeneviertel. Und als erstere wegen eines verlegten Rückflugs nach London letztere in der alten Heimat besucht und die mittleren zwei kurzerhand abholt, verbringen die vier Weggefährtinnen früherer Tage ein paar neue in der alten Hood, die sich ebenso verändert hat wie das ungleiche Quartett. Allesamt Anfang 30, ist sich zwar jede von ihnen irgendwie treu geblieben, allerdings nur scheinbar zufrieden damit.

Widerstehen Sie dem Abschaltimpuls zu Beginn!

So führt die Wiedervereinigung zu einer ganzen Reihe mal lustiger, oft schmerzhafter Selbsterkenntnisse, die das Regie-Duo Barbara Ott und Arabella Bartsch auf achtmal 22 Minuten ausbreitet. Fürs Publikum entscheidend dabei ist allerdings, die ersten davon schadlos, also ohne Abschaltimpuls zu überstehen. Um zu zeigen, in wie verschiedene Richtungen sich das verschworene Quartett von einst entwickelt hat, lässt ZDFneo nämlich zunächst mal drollige Klischees hageln wie eine Neunziger-Sitcom Lacher vom Band.

Elif (Jasmin Shakeri) macht dumme Sprüche ("Du siehst aus wie die Ritze in meinem Auto"), Franzi (Llewellyn Reichman) isst kein Fleisch mehr ("Das kommt echt besser an bei den Followern"), Jo (Salka Weber) kultiviert ihre Armut ("Kannst du mir 65 Euro leihen?"), macht aber noch immer die gesettelte Lena (Sarah Bauerett) eifersüchtig ("Ich bin das Trockenfutter, du bist der Pansen"). In den ersten ein, zwei Folgen ist das alles arg auf Wirkung gebürstet, weshalb sie ohne Punkt und Komma Sperrfeuer der Schlagfertigkeit abschießen, als kämen sie von Jan Böhmermann.

Schon nach kurzer Zeit allerdings entwickeln die vier Charaktere Persönlichkeiten jenseits ulkiger Punshlines. Jasmin Shakeri brilliert darin, ihrer migrationsvordergründigen Bling Bling-Bitch selbstreflexives Charisma zu verleihen, während die Realitätsflucht von Webers traurig-schöner Wohlstandsverliererin Jo zum Niederknien würdevoll bleibt. Und in Vorbereitung auf Lenas anstehende Hochzeit mit dem süßen Songwriter Marek (Markus Maecke Winter), der wie sämtliche Männer hier allenfalls Sidekick-Funktionen übernimmt, kriegen auch die Schalen ihrer neobürgerlichen Spießerfreundinnen Franzi und Lena zusehends Risse, die sich bei allem Schmerz als überaus heilsam fürs psychische Korsett dahinter erweisen.

Der anfängliche Zickenkrieg als angeblich östrogengesteuertes Pendant zum testosterongesteuerten Schwanzvergleich wird fortan zur wechselseitigen Empathie fürs Schicksal anderer – insbesondere den BFFs, wie vermeintlich ewige Freundinnen heutzutage heißen. Und so erzählt "Deadlines" trotz aller wohlfeilen Klischees nicht nur vom Überleben in der Multioptionsgesellschaft zwischen Selbstverwirklichung und Kinderwunsch, Unabhängigkeitsstreben und Sicherheitsbedürfnis; über drei kurzweilige Stunden hinweg geht es in Doppelfolgen auch ums Innere ebenso leistungs- wie gebärfähiger Frauen unter 40, die scheinbar alle Fäden in der Hand halten und doch permanent auf der Suche nach Kontrolle über ihr eigenes Leben sind.

"Es gibt kein normal oder unnormal", sagt Jo mal zur Kritik der selbstgerechten Lena an ihrer Außenseiterexistenz. "Alles, was du als normal und unnormal empfindest, sind Konventionen, gemacht von weißen alten Männern". Damit bringt sie die Realität dieser ziemlich divers emanzipierten Role Modes – ein bisschen zu eloquent, aber stichhaltig – auf den Punkt. Und damit ein Fernsehformat, das unter der tragikomischen Oberfläche plakativen Lifestyles einiges zu sagen hat über uns Menschen im Jahr 2021.

Alle Folgen sind ab Freitag, 9. Juli, 10 Uhr in der ZDF-Mediathek abrufbar. Ab dem 13. Juli zeigt ZDFneo zudem zwei Folgen pro Woche dienstags um 23:15 Uhr