Was ein Algorithmus ist, können im Jahr 32 nach der Erfindung des WWW noch immer nur wenige fehlerfrei beschreiben, dabei klingt die Antwort simpel: ein Algorithmus ist die festgelegte Abfolge aller handlungsrelevanten Schritte auf dem Weg zu Problemlösungen jeder Art. Okay, Computerlaien bringt das zwar keinen Millimeter Golddraht auf dem Halbleiter weiter, fasst aber ganz gut zusammen, wie es Carsten Schlüter und Juri Müller 1993 ergangen ist, als sie eine Idee hatten.

Die beiden Hobby-Programmierer, der eine Künstler, der andere Hacker, wollten seinerzeit sämtliche Abbildungen der Erde in so kluge Algorithmen verpacken, dass potenzielle User damit am Bildschirm um die Welt reisen können. Heutzutage kennt man das als Google Earth, doch dazu später mehr, genauer: elf Jahre. Kurz nach dem Mauerfall in Berlin jedoch fehlte Carsten und Juri fast alles, um ihre Idee in die Tat umzusetzen. Geld, Hardware, Geld, Software, Geld, Büros, Geld, Personal – ach ja, und Geld. Nur eines besaßen sie zur Genüge: Enthusiasmus.

Deshalb wandte sich das ungleiche Duo mit identischem Ziel an die Deutsche Bundespost, die ihre Kommunikationssparte damals gerade zur Telekom machte, und siehe da: es bekam genug Geld für Hardware, Software, Büros und Personal. Einige der handlungsrelevanten Schritte auf dem Weg zur Problemlösung waren also getan. Warum der Weg dorthin dennoch ins Stocken kam – davon erzählt  Netflix ab heute in einer bemerkenswerten Miniserie aus Deutschland, die den amerikanischen Titel "The Billion Dollar Code" trägt, und zwar völlig zu recht.

Gut 20 Jahre nämlich, nachdem der Berliner Kunststudent Mittel und Technik zur Entwicklung von "TerraVision" beisammenhatte, sitzt Carsten Schlüter in einer Anhörung zum Prozess, den er gegen das kalifornische Tech-Imperium Google anstrengt. Der Vorwurf: Patent-Betrug. Während die Garagenmilliardäre von Bill Gates über Steve Jobs bis Elon Musik über den Bildschirm flimmern, sagt Mark Waschke als angebliches Diebstahlsopfer aus dem Off: "Nur unsere Geschichte kennt kein Mensch." Das könnte sich nun ändern. "The Billion Dollar Code" erzählt sie von Anfang an.

Wie der lebenshungrige Carsten (Leonard Schleicher) beim Raven im liebenswert chaotischen Berlin der frühen Neunziger auf den lichtscheuen Nerd Juri (Marius Ahrendt) trifft. Wie beide die frisch privatisierte Telekom dazu bringen, trotz bürokratischer Bedenken in ihr Projekt zu investieren. Wie sie es mithilfe des Chaos Computer Clubs zur digitalen ITU-Konferenz in Kyoto schaffen. Wie von dort aus ihr Siegeszug bis ins Silicon Valley beginnt. Wie er ebenso abrupt wieder endet, weil Carsten und Juri zwar herausragende Programmierer, aber lausige Geschäftsmänner sind.

Robert Thalheim inszeniert den wilden Ritt durchs Jugendzimmer der digitalen Revolution mit einer (annähernd) klischeefreien Hingabe, die eher unüblich ist fürs hiesige Historytainment. Damit Unkundige die Tragweite des multimedialen Fortschritts jener Tage verstehen, schmeißt Juri zwar gelegentlich mit Phrasen à la "wer die Macht über die Daten hat, hat die Macht über die Welt" um sich. Doch wenn er hinzufügt, der Unterschied zwischen Invention und Innovation bestehe darin, "die Erfindungen zu den Menschen nach Hause zu bringen", macht das deutlich, worum es Showrunner Oliver Ziegenbalg in der vierteiligen Fiktionalisierung einer wahren Geschichte geht.

Die Diskrepanz zwischen Träumerei und Realismus nämlich, zwischen Fortschritt und Stagnation also, Plansoll und Flexibilität, Macht und Ohnmacht, San Francisco und Berliner Breitscheidplatz, 20. und 21. Jahrhundert. Das akkurat dekorierte Serienland ist zwar auch vor anno 1993 noch die fleißige Werkbank der Welt, aber geistig wie materiell durch und durch analog organisiert und damit zu langsam fürs Tempo der beschleunigten Generation X. Statt World Wide Web regieren Klemmbretter und Faxgeräte. Der Staat fährt im Opel Ascona zur Razzia beim Hightech-Hobbyclub CCC vor. Die Telekom verkabelt ihre Kunden von Hand. Und wenn einer der grauen Post-Manager einräumt, "hier im Haus" seien "alle Fans von TerraVision", fügt er mitleidig hinzu, "nur Internet-Anwendungen auf einem PC", der geborene Beamten-Darsteller Bernhard Schütz kräuselt glaubhaft die Stirn: "Daran glauben wir nicht".

Der bundesdeutschen Seite fehlt es also an Weitsicht, der westamerikanischen an Respekt – kein Wunder, dass Ziegenbalgs Fabrikloft-Revoluzzer erfolglos gegen einen Konzern kämpfen, dessen Umsatz schon damals den Etat mittlerer Staaten überstieg. Wer schon mit der staubigen Postnachfolgerin Telekom nicht fertig wird, muss am schillernden Suchmaschinen-Krösus Google naturgemäß scheitern. Das taten in der Realität auch vier der leibhaftigen Art+Com-Gründer die Oliver Ziegenbalg zu Carsten Schlüter (Gerd Grüneis/Joachim Sauter) und Juri Müller (Pavel Mayer/Axel Schmidt) gebündelt hat – auch wenn er ihnen ein leicht abgewandeltes Finale gönnt.

Davor aber durchzieht Robert Thalheim das juristische Tauziehen im Courtroom-Teil mit einer Gesellschaftsstudie der Neunzigerjahre voller Originalaufnahmen und Reenactment, die ungeheuer detailversessen Empathie und Spannung kreiert. Branchentypische Überzeichnungen nerdiger Charaktere kann sich zwar auch dieser Filmemacher nicht ganz verkneifen. Der Rest aber ist für hiesige Serienverhältnisse ganz schön authentisch, ohne auf dramaturgische Finesse zu verzichten – und damit unbedingt sehenswert.

"The Billion Dollar Code" steht ab dem 7. Oktober bei Netflix zum Abruf bereit.