Die Welt ist wahrhaft gut für die Zukunft gerüstet. Allein in den USA, wo sogar Schnellfeuergewehre leicht zu kriegen sind, gibt es statistisch 1,2 zivile Schießeisen pro Person. Weltweit liegt der legale Bestand bei 850 Millionen Stück jeder erdenklichen Durchschlagskraft, vom illegalen ganz zu schweigen. Wobei das noch gar nichts gegen jenes Arsenal ist, das die ostdeutsche Kommissarin Karo Schubert und ihr westdeutscher Kollege Peter Simon am Ende des ersten Teils der Dramaserie "ZERV" entdecken.

In einer alten Lagerhalle, wo sich die Berliner Jugend gerade 40 Jahre getrennter Partys vom Leib feiert, finden sie massenhaft Waffen. Und was für welche! Kistenweise AK-47, Dutzende Boden-Boden-Raketen und GS-23 Marschflugkörper, dazu Abertausende klein- bis großkalibriger Pistolen, ja halbe Kampfjets – selbst in der anarchistischen Wendezeit ist das ein Depot mit Kriegspotenzial, also eigentlich auch für Schuberts Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität ein paar Nummern zu groß.

Dummerweise hat sich der fiktive Chef dieser realen Einheit in den Kopf gesetzt, die neue alte Bundesrepublik auch polizeilich zu vereinigen. Hans Thieme (Rainer Bock) beauftragt daher den westdeutschen ZERV-Kommissar Simon (Fabian Hinrichs), gemeinsam mit der ostdeutschen Polizei-Kommissarin Schubert (Nadja Uhl) einen Todesfall aufzuklären. Zuständig für Verkauf oder Verschrottung alter NVA-Bestände, wurde Matthias Trockland erhängt im Garten seiner Ostberliner Datsche aufgefunden wird. Suizid, meint Simon am Fundort – und hat die Rechnung ohne das Erste gemacht.

Schließlich sehen wir ab heute online und sieben Tage später zur Primetime öffentlich-rechtliches Historytainment. Und wenn die ARD deutsch-deutsche Trennungsgeschichte aufarbeitet, dann dreht sie bekanntlich gern am ganz großen Rad. Sechsmal 45 Minuten lang geht es hier also nicht nur um Mord oder Totschlag, sondern Kapitalismus und Sozialismus, Systemkonflikte und Waffenhandel, die Stasi und den BND, Republikflucht und Zwangsadaptionen, fast alles also, was die wilden Jahre zwischen Mauerfall und Zweistaatlichkeit politisch prägte.

Weil faktenbasierte Fiktionalisierung am Bildschirm indes nur mit passender Emotionalisierung Quoten bringt, hat Dustin Looses Writers Room dem jungen „Tatort“-Regisseur aber natürlich noch allerhand Persönliches unter die Realpolitik geschrieben. Schon als der selbstgerechte Besserwessi Simon mit Schlips und tragbarem Funktelefon auf die locker gekleidete Ostkollegin trifft und ihre 17 Millionen Landsleute mit den Worten "viele Menschen haben viel, viel Schuld auf sich geladen" als kollektivschuldig abkanzelt, wird demnach deutlich, wie sich die produzierende Ko-Autorin Gabriela Sperl das Gefühlsleben vorstellt: Als soziokulturellen Zickenkrieg.

Von Beginn ihrer Ermittlungen an arbeiten die zwei Alphatiere einst verfeindeter Staaten somit eher gegen- als miteinander. Während Simon bei jeder Gelegenheit Corpsgeist und Mangelwirtschaft wittert, machen sich die Eingeborenen Schubert und ihr Kumpel Ute (Fritzi Haberlandt) von der Spurensicherung über dessen Arroganz lustig. Je tiefer das Gestrüpp fein verästelter Wirtschaftskriminalität in der Vergangenheit beider Staaten wurzelt, desto deutlicher treten jedoch die Menschen dahinter zutage. Und hier ist es das Glück (oder Kalkül) dieser sehenswerten Produktion aus der Fernsehblockbuster-Schmiede Wiedemann & Berg, ihre Hauptfiguren so klug besetzt zu haben.

Während Fabian Hinrichs Peters Simons Überheblichkeit als Folge seelischer Zerrüttung spürbar macht, brilliert Nadja Uhl als schnodderige Impulspolizistin, die sich auch nicht von dessen Systemkonfliktsiegerpose unterkriegen lässt, als ihre Eltern Bezüge zum Mordopfer aufweisen. Wenn Ausstattung und Musik mal wieder die Oberhand über Dramaturgie und Dialoge gewinnen, neigt sich der atmosphärische Tiefgang zwar Richtung Oberfläche. Zur Untermalung müssen schließlich zwanghaft die Hits der Achtziger und Neunziger ohne das Beste von heute laufen. Und wenn Szenenbildner Knut Loewe seinen Fuhrpark guterhaltener Trabis und Käfer durch düstere Plattenbausiedlungen lenkt, heult natürlich irgendwann der „Wind of Change“ darüber. Ossis essen Soljanka, Wessis tragen Bundfalte, schon verstanden.

Wer diesen Kessel Besetzungsbuntes von Peter Schneider bis Imogen Kogge so sieht, fragt sich da eigentlich nur noch: hatten Jörg Schüttauf und Katrin Sass keine Zeit oder Lust? So was kann aber nur kurz darüber hinwegtäuschen, dass "ZERV" den trüben Tümpel des BRDDR-Reenactments durchaus mit einem Strom Frischwasser klärt. Begleitet von einer Dokumentation über die echte Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, inszeniert das Erste hier nämlich einen Fall von Nachwendeost-Wildwest, der die Rechtlosigkeit von damals recht schlüssig mit dem erwachten Freiheitsdrang der Generationen X und Y abgleicht.

"Wir gehen morgen Tanzen, in so’m alten Tresorraum einer Bank", versucht die junge Polizistin Frauke (Henriette Hölzel) den niedergeschlagenen Simon von ihrer gemeinsam eineinsamen Observation in Berlins berühmtesten Techno-Club zu locken. "Die Grenzen deines Körpers verschwimmen total und alle sind gleich, egal ob Ost oder West, du denkst auch nicht mehr und bist nur noch am Fühlen, das ist die absolute Freiheit." Leider nicht die von Peter Simon. "Ich kann das nicht mehr", sagt er und weint. So modern wie diesen Dialog hat öffentlich-rechtliches Historytainment die deutsch-deutsche Vergangenheit selten erzählt.

Alle sechs Folgen stehen ab dem 15. Februar in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Das Erste strahlt sie vom Dienstag, 22. Februar bis Donnerstag, 24. Februar jeweils ab 20:15 Uhr in Doppelfolgen aus.