Erfolg ist relativ, vor allem relativ zum eigenen Sichtfeld. Ausgerechnet am Tag, als die Psychologiestudentin Nola mangels Qualifikation von der Uni fliegt, wird ihre allerbeste Freundin Hennie zur Senior Executive Finance Account Controller (was immer das ist) befördert und verdient dabei sechsstellig, während ihre zweitallerbeste Freundin Tia für 7000 Euro ein Kunstwerk (was immer es darstellt) verkauft. Ihre drittallerbesten Freunde Mads (Essenskurier) und Hugo (Flugbegleiter) sind beruflich zwar ähnlich erfolglos wie Nola, haben aber originellere Privatleben und weniger Wut im Bauch.

Weder sexuell noch finanziell kann die frisch gebackene Ex-Akademikerin also in der kompetitiven Generation Tinder/Insta/Linkedin am sündhaft teuren Standort München mithalten. Kein Wunder, dass sie den tragikomischen Amazon-Achtteiler „Damaged Goods“ mit einer Lüge beginnt. Auf Hennies Beförderungsfeier behauptet Nola, sie promoviere und müsse zur Feier der Doktorwürde Sigmund Freud, dessen Büste sie ihrem Professor im Affekt vom Schreibtisch gestohlen hat, mit sich herumschleppen. „Komische Tradition“, meint Hennie, worauf Nola „welche Tradition ist nicht komisch“ entgegnet.

Dieser kleine, feine, kaum spürbare und doch beachtliche Kneipenklo-Dialog besteht nicht nur den emanzipationsgradprüfenden Bechdel-Test (gibt es mindestens zwei weibliche Hauptfiguren? Reden sie miteinander? Geht es dabei um was anderes als Männer?). Er zeigt auch gleich zu Beginn der mehrstündigen Milieustudie, worum es Headautor Jonas Bock in seiner bislang größten Drehbuchvorlage geht: komische Traditionen komisch brechen. Und das gelingt ihm mithilfe der eingeborenen Regisseurin Anna-Kathrin Maier trotz ihrer Expertise aus Schmunzelkrimis wie „Hubert und/ohne Staller“ hervorragend. Dabei ist die Serie im Auftrag der Westside Filmproduktion für Prime Video inhaltlich kein allzu krasser Bruch mit TV-Regeln jüngerer Herkunft.

Seit einiger Zeit fluten Streamingdienste und Mediatheken das Fernsehen mit „Young Adult“ genannter Comedy: heiter bis wolkige Fiktionen hipper Innenstadtbewohner:innen um die 30, denen vor lauter Lebenschancen die Hirne, Herzen, Eier(stöcke) qualmen. Prime Video selbst hatte erst kürzlich ein Coming-of-Age-Kuriositätenkabinett im Angebot. „Sex Zimmer Küche Bad“ hieß es analog zur wundervollen WG-Komödie „3 Zimmer/Küche/Bad“, war in seiner spätpubertären Kalauerdichte jedoch so scheußlich, dass schon die Inhaltsangabe von „Damaged Goods“ furchteinflößend war.

Zu Unrecht, wie sich nach kürzester Serienzeit zeigt. Maier hat nämlich ein Ensemble zusammengestellt, das die ebenso alte wie irreale Idee einer Clique grundverschiedener Charaktere plausibel, ja wahrhaftig macht. Ein halbes Leben, nachdem ihre Eltern sie zur „Professor Glasauge“ genannten Psychiaterin geschickt haben, sind die fünf Seelenverwandten auch mit Ende 20 noch räumlich und mental beisammen: Die biedere Businessdomina Hennie (Leonie Brill), der eitle Womanizer Mads (Tim Oliver Schultz), die ziellose Künstlerin Tia (Zeynep Bozbay) und der schwule Nestwärmesucher Hugo (Antonije Stankovic). Würde die Gruppentherapie nicht als lebenslanger Kitt dienen – die ulkige Diversität bliebe bloß Behauptung.

Mit spitzer Zunge und scharfem Verstand

Doch da die Figuren (mal abgesehen von Tias Hippieoma, die Michaela May auf Bauerntheaterniveau überzeichnet) vorwiegend schlüssig kommunizieren, geht der Plot atmosphärisch auf. Und das liegt ausgerechnet an der einzigen im Cast ohne Kameraerfahrung: Sophie Passmann. Die (bei Sexisten verhasste, von Feministinnen verehrte) Publizistin schafft es locker, ihre Nola im Zentrum der Handlung buchstäblich zu verkörpern – vielleicht ja, weil sie die körperpositive Influencerin mit spitzer Zunge und scharfem Verstand nicht abstrahieren muss, sondern abrufen kann.

Nach dem Popkultur-Podcast „Jubel & Krawall“ hat Passmann nämlich gerade „Quelle: Internet“ über die Abgründe sozialer Medien nachgelegt. Und weil ihr Amazon-Alter-Ego alles, was Nolas Umfeld Emotional-Saftiges von Cunnilingus bis Chlamydien erlebt, heimlich im Podcast „Damaged Goods“ ausbreitet, gräbt die „Küchenpsychologin“ Passmanns real erörterten Schlund digitaler Gehässigkeiten nun fiktional noch etwas tiefer. Am Telefon bestreitet die Darstellerin zwar Ähnlichkeiten zur gleichaltrigen Serienfigur. „Das Drehbuch hat fast nichts mit mir zu tun“, sagt sie mit angriffslustiger Stimme zwei Oktaven unterhalb dessen, was in Film & Fernsehen als feminin gilt.

Aber wenn sie mit gleichem Trommelfeuersarkasmus im Unterton wie Nola einräumt, „Stimme und Sprachlichkeit spiegeln ein paar Aspekte meiner realen Lebenswelt wider“, wird Passmanns Schlagfertigkeit, ihr zwanghafter Hang zur Ironie, begleitet vom Mangel an Respekt vor Gesprächs- oder Verhaltensregeln in jeder Silbe spürbar. Es ist ein Sound unbedingter Aufrichtigkeit, der noch glaubwürdiger wirkt, wenn sie einräumt, für „Damaged Goods“ wegen „meiner Reichweite natürlich“ gecastet worden zu sein. Es ist aber auch einer, für den ihr Publikum harte Bandagen braucht.

Ebenso wie Nola liegt Sophie schließlich das Herz auf der Zunge. Beide sind gleichermaßen lustig, neigen aber auch zum zur selbstreferenziellen Meinungsattacke, die Kollateralschäden billigend in Kauf nimmt. Als Nola über die Objekte ihrer Millennial-Feldforschung sagt, es seien „die besten Menschen der Welt“, aber so leise wie sonst selten „und ich bin so scheiße“ hinzufügt, meint sie damit folglich auch Sophie Passmann. Eine der interessantesten und anstrengendsten, boshaftesten und lustigsten, klügsten und wütendsten, einflussreichsten und überschätztesten, ergreifendsten und nervigsten Influencerinnen der deutschen Popkultur – jetzt auch als Serienfigur im Angebot. Unbedingt zugreifen!

"Damaged Goods" ist ab dem 11. Juli bei Prime Video abrufbar.