Beim Einstieg in Entführungsthriller gibt es offenbar nur zwei dramaturgische Optionen: Man zeigt das Opfer im finsteren Verlies und blendet dann zurück in dessen schicke Wohnung, wo Vater, Mutter, Kind noch ahnungslos am Esstisch miteinander flachsen. Oder umgekehrt: erst Familien-Idyll, dann Kidnapping-Chaos, Hauptsache Kontrast – für den Spannungsbogen unerlässlich. Benjamin Pfohl hat sich bei seiner Serienpremiere in der ZDF-Mediathek für Variante a entschieden.

Sein sechsteiliges Kindesraubdrama „Decision Game“ beginnt folglich mit Zoom auf Elsa, die gefesselt und verzweifelt ihrer Befreiung aus der Gewalt eines Verbrechertrios harrt, das gerade was Fieses vorhat – davon zeugt ein gellender Schrei, den sie ausstößt, als die Kamera 18 Stunden zurück in ihr trautes Heim blendet. Bevor der junge Werbefilmer das Drehbuch des erfahrenen Johannes Lackner umsetzen durfte, hat er sich also viel von seiner neuen Branche abgeschaut. Umso mehr fragt man sich am Ende einer viereinhalbstündigen Achterbahnfahrt: war der Verzicht auf eigene Handschrift zugunsten starrer Genreregeln klug? Die Antwort lautet Nein.

Drei Ausrufezeichen.

Dafür reichen fünf Minuten Sendezeit, die auch keine der folgenden 265 besser macht. Schade eigentlich. Denn Pfohls Showrunner, geschult durch Serien wie „Der letzte Bulle“, hat ihm ein originelles Stück Primetime-Entertainment bereitet. Elsas Mutter ist Risikoanalystin einer Rückversicherungsgesellschaft mit mathematischem Verstand zur akademischen Ausbildung und Polizist als Gatte, dem sie intellektuell wie finanziell hochüberlegen ist – für Frauen noch immer ein beispielloses Rollenprofil, das der erfrischend unverbrauchte Bühnenstar Eva Meckbach zudem virtuos zwischen Selbstkontrolle und Panikattacke zum Ausdruck bringt.

Mithilfe von Alex (Shenja Lacher) will sie die gemeinsame Tochter (Paula Hartmann) aus den Händen der Entführer befreien, die statt Lösegeld etwas Ungewöhnliches fordern: Vera soll den Investitionsindex fürs afrikanische Burundi so manipulieren, dass der Preis seltener Rohstoffe explodiert. Irgendwas mit Finanzspekulationen also – es ist kompliziert, am Ende aber auch egal. Denn im Zentrum der Story steht das Ringen aller Beteiligten um Handlungshoheit in einem Kriminalfall, der sich mehr und mehr zum Psychokrieg entwickelt.

„Das ist kein verdammtes Schachspiel“, sagt der psychopathische Entführer Mark, als ihm die Rochaden zu viel werden; und abgesehen davon, dass ZDFneo mit etwas besserem Drehbuch wohl Jakob Diehls Bruder August für die Rolle als Komplize von Roeland Wiesnekkers Anführer Robert gewonnen hätte, davon abgesehen auch, dass niemand unter 50 „verdammt“ sagt, hat er ja Recht: „Decision Game“ ist kein fucking Schachspiel.

Aber gut: im Grunde ist es ja nicht mal ein Schauspiel, sondern ein Trauerspiel, dessen Niveau gar das von „The Team“ unterläuft, jahrelang der lausigste Thriller hierzulande. Mal abgesehen von Meckbachs Versuch, ihrer fragilen Figur oberhalb der gläsernen Decke psychosozialen Tiefgang zu entlocken, agiert der Cast vollumfänglich wie in einer Hauptabendversion von „Cobra 11“ – was dadurch noch schlimmer wird, dass der Soundtrack von Anna Kühlein ein effekthascherisches Gebräu aus „Achtung, Gefahr!“ und „Obacht, Gefühl!“ über wirklich jede Seriensekunde kippt und das Gesagte darin noch weiter verschlimmert.

Wenn Mama eine Freundin ihrer vermissten Tochter anruft, muss Vera „Wie, sie war gar nicht da…?“ wiederholen. Wenn die Entführer ein Zeichen der Entschlossenheit senden, hört man das Opfer „bitte nicht den Daumen!“ schreien. Wenn Vera mithilfe ihres alten Professors spieltheoretisch nach Elsa forscht, muss er zudem ständig wilde Formeln an Wände kritzeln. Und natürlich, wir sind hier im öffentlich-rechtlichen Mainstream abseits vom Seitenarm gelungener „Tatorte“, tragen alle ihre dunklen Geheimnisse mit sich herum, die zwar so realistisch sind wie Amnesie und Zeitmaschinen, aber drollige Handlungssprünge erlauben. Ach ja, Elsas Schwester ist einst beim gemeinsamen Kletterunfall abgestürzt, taucht also als unverarbeitetes Trauma mit happyendrelevanter Bedeutung in Rückblenden auf. Alltag im Alman-Krimi.

Am schlimmsten aber, am allerallerschlimmsten dieser Beleidigung des durchschnittlichen Intellekts der rundfunkbeitragszahlenden Unterhaltungskundschaft ist, wie Lackner und Pfohl die Erzählung einerseits mit pseudoakademischer Küchenpsychologie andicken, sie andernorts aber mit Charakterzeichnungen bar jeder Logik verwässern. Von der gefangenen, ja gefolterten Tochter über die blitzgescheite, aber seelisch labile Mutter bis zum Kidnapper unterm Stress lebenslanger Haftaussicht haspelt, schwitzt oder fackelt folglich niemand. Never.

Selbst in Todesangst behalten stinknormale Menschen die Kontrolle über den Ausnahmezustand, als läge Berlin zwischen Mordor und Alderan. Wieso sich der fabelhafte Aljoscha Stadelmann zur Nebenrolle überreden ließ, bleibt da ebenso rätselhaft wie die Cyberpunk-Optik von Elsas Kerker, die sie stets in schattenfreies Rotlicht taucht, unter dem sie ihre Geiselnehmer zwar schlecht versorgen, aber offenbar ständig schminken und frisieren – vielleicht ja, um sie für die dauernde Facetime mit Mama und Papa schönzumachen. So laufen Kindesentführungen im Smartphone-Zeitalter à la ZDF: Optik instagramtauglich, Inhalt egal. Wie „Decision Game“.

Alle sechs Folgen von "Decision Game" stehen bereits in der ZDF-Mediathek. ZDFneo zeigt am 6. und 7. September jeweils drei Folgen ab 20:15 Uhr