Das Fernsehen hat ein Glaubwürdigkeitsproblem und nein, das liegt hier mal nicht an Patricia Schlesingers Feudalsystem, sondern der öffentlich-rechtlichen Produktplacementpolicy. Deutsche Autos zum Beispiel, besonders Marke VW/Mercedes, sind in jeder Produktion inhaltsunabhängig, aber werbewirksam zu sehen. Adidas hingegen wird immer ein Streifen abgeklebt, Schokolade heißt „Schoki“ statt „Milka“, selbst Städte kriegen Pseudonyme, die sogar der organisierten Kriminalität zuteilwerden.

Denn FIFA heißt jetzt WFA. Wie Gianni Infantinos „Fédération Internationale de Football Association“ beutet die „World Football Association“ genannte Fußballmafia von Präsident Jean Leco (Raymond Thiry) das Milliardengeschäft zwar zum Vorteil einer Clique mittelalter weißer Männer aus. Aber die korrupten Kinder der Macht im achtteiligen Sportpolitik-Thriller beim Namen zu nennen – das hat sich die Sommerhaus Serien GmbH doch nicht getraut.

Schade eigentlich. Im Auftrag von Degeto, Beta und Red Bull Media House soll die internationale Koproduktion "Das Netz" schließlich ein realfiktionales Gegenstück zur realexistierenden WM in Katar liefern. Und weil die ARD fast alles überträgt, was nicht im ZDF läuft, wäre es schon aus Respekt vor den Abertausend Todesopfern ein bisschen, nun ja, aufrichtiger gewesen, das Böse auch auszusprechen. Aber gut: Immerhin heißt Union Berlin Union Berlin.

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  • "Das Netz" besteht aus mehreren erzählerisch miteinander verflochtenen Serien, in denen es immer um den weltumspannenden Fußball geht und deren Geschichten und zentrale Figuren sich dabei immer wieder kreuzen. Die ersten veröffentlichten Serien sind nun "Spiel am Abgrund" aus Deutschland und "Prometheus" aus Österreich, weitere Produktionen aus anderen Ländern sollen folgen. Das länderübergreifende Projekt basiert auf einer Idee von Matthias Hartmann und Plinio Bachmann.

Dort findet zu Beginn ein (laut Untertitel) "Spiel am Abgrund" statt. Während einer Partie des kleinen Hauptstadtclub nämlich wird der international operierende Talentscout David Winter (Itay Tiran) angegriffen und verbrennt anschließend vor den Augen seiner Freundin Lea Brandstätter (Birgit Minichmayr) im Auto, wofür der frisch haftentlassene Hooligan Marcel (Max von der Groeben) verdächtigt wird, dessen bester Kumpel ebenfalls an der "Alten Försterei" zu Tode kommt.

Beim Versuch, die Morde mit dem Straftäter Sport aufzuklären, landet Strafverteidigerin Lea über Umwege bei der FIFA, pardon: WFA. Denn wenn er nicht gerade tief im Hintern zahlungswilliger Scheichs und anderer Potentaten steckt, versucht deren skrupelloser Boss Infantino, ach nee: Leco, eine Weltliga im Stil der (vorerst) gescheiterten World League durchzupeitschen, was er als Wohltat der Armen und Entrechteten verkauft. Das allein böte reichlich Stoff für mitreißende Dramen über die Machenschaften einer globalen Machtelite.

Nur: Nach Drehbüchern von Headautor Bernd Lange ("Das Verschwinden") bläst der aufblasfreudige Regisseur Rick Ostermann ("Das Boot") sein shakespearesches Intrigenspiel zum Actionthriller auf und ersetzt Faktentreue gern durch Firlefanz. Schade eigentlich. Denn sobald Langes Talent zur feinsinnigen Gesprächsführung durchdringt, wenn Christine (Eva Mattes) also mit Kollegin Lea über philanthropische, aber ruinöse Pro-Bono-Mandate diskutiert oder Marcel mit Kumpel Kevin über geregelte, aber illusionäre Lebensentwürfe, wirkt das "Spiel am Abgrund" in sachlicher Form anrührend.

Abseits guter Dialoge lässt die ARD ihr Publikum aber doch lieber in Waffenläufe als Gedankengänge blicken, versorgt "Bild"-Fans ferner mit Schauermärchen Marke Kinderpornografie und suggeriert damit, dass der echte FIFA-Skandal mangels Auftragskiller gar nicht so schlimm sei. Diese Ausweitung der eskapistischen Kampfzone treibt das zweite Netz-Teil sogar ins Groteske. Nachdem Andreas Prochaska Martin Ambroschs Version von Wolfgang Petersens "Boot" vor fünf Jahren zum Agententhriller verzwergt hatte, schicken sie für den österreichischen Projektbeitrag "Prometheus" nun Tobias Moretti als Dopingjäger gegen die zweite Geißel des Profifußballs in die Schlacht.

So scheint es zu Beginn. Doch je länger der Achtteiler läuft, desto mehr tritt ein Manipulationssystem, dem leibhaftige Reporter wie Hajo Seppelt relativ unspektakulär nachspüren, an den Rand deftiger Nebenkriegsplätze voller Chinesen und Pharmafunktionäre, die sich unter Matthias "John Carpenter" Webers dräuendem "Dark"-Sound finster dreinblickend Richtung Showdown voranschießen. Diese Brachialbagatellisierung realer Großkonflikte erinnert dabei ans Arte-Projekt "Tandem", mit dem der Kulturkanal 2015 die Atomkraftdebatten seiner Mitgliedsstaaten seriell skizzierte.

Während Frankreich ein heiteres Stück übers "gespaltene Dorf" moralisch biegsamer Einzelinteressen beisteuerte, erstickte Deutschlands Beitrag das Hauptthema mit einer RTLzwei-affinen AKW-Besetzung in Pulverdampf. Ganz so effekthascherisch ist "Das Netz" weder hüben noch drüben. Beide Storys sind virtuos erzählt, viele der Charaktere schlüssig besetzt, besonders weibliche dabei fast klischeefrei. Und die Idee, Typen wie Tim Wlaschihas Strippenzieher Richard Felgenbauer hier wie dort auftreten zu lassen, ist schon auch originell. Seine Chance zur Aufbereitung eines leibhaftigen Skandals hat das Projekt dennoch vertan.

Und das hat noch ein paar mehr Gründe als zu viel Musik, zu viel Drama, zu viel Action, ach eigentlich zu viel von allem außer Stille. Wann immer Männer mit Maßanzügen milliardenschwerer Deals in Lear-Jets oder Luxushotels machen, wirkt es nämlich schon deshalb unterkühlt, weil die Amtssprache der WFA offenbar Deutsch ist. Klingt nach "Traumschiff"? Ist schlimmer! Denn dass gelegentlich Englisch gesprochen wird, spricht wie Jean Lecos französischer Akzent für heimliche Weltherrschaftsfantasien der Verantwortlichen.

Okay, das war jetzt polemisch… Aber ernsthaft: Die aasige Deutschtümelei ist ja nicht mit besserer Verständlichkeit zu erklären, sondern mit einer Publikumsbevormundung, wenn nicht gar -verachtung, die 2015 auch den wesensverwandten EU-Thriller "The Team" prägte. Was bleibt also Positives von "Das Netz"? Max von der Groeben als sensationell glaubhafter Hooligan und Spannungsbögen, die jeder mag, der auf Dan Brown und Sebastian Fitzek steht. Immerhin.

Alle Folgen von "Das Netz: Spiel am Abgrund" stehen in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Die lineare Ausstrahlung erfolgt am 3. und 4. November im Ersten. Die österreichische Serie "Das Netz: Prometheus" läuft ab dem 1. November bei Servus TV und steht später ebenfalls in der ARD-Mediathek zur Verfügung.