Rache, sagt man, sei süß. Dabei lehrt die Geschichte, dass sie stets sauer und gallig schmeckt. Schließlich sucht Rache nach Feindschaft statt Frieden, sie will nicht ausgleichen, sondern abstrafen und bewirkt dadurch das Gegenteil moderner Konfliktlösungsansätze. Rache ist buchstäblich so ätzend, dass eigentlich nur noch moralzersetzende Mafiaserien und Italowestern Vergeltungsmuster reproduzieren. Beides traditionell Männerstoffe, in denen Männer Männern Auge um Auge Zahn um Zahn ziehen.

Für emanzipiertes Fernsehen sind Rachegelüste dagegen zu schematisch und öde, also eher selten auf anspruchsvolle Art unterhaltsam – es sei denn, sie befreien Krimis vom öden Schema standardisierter Ermittlungen. Im Netflix-Sechsteiler "Totenfrau" scheinen die nämlich nach einem Verkehrsunfall mit Todesfolge frühzeitig zu versanden – und das, obwohl der Verstorbene Polizist war. Eben noch saß Mark (Maximilian Kraus) im trauten Kreis der Familie gemütlich am Frühstückstisch, da wird er vor den Augen seiner Frau (Anna Maria Mühe) von einem Auto gerammt und stirbt kurz darauf im Krankenhaus.

Doch was zunächst wie ein tragischer, aber nicht ungewöhnlicher Fall von Fahrerflucht aussieht, entpuppt sich als Glied einer verdächtigen Kette an Ungereimtheiten. Noch in der Klinik erzählt Marks Kollege Massimo (Felix Klare) der Witwe beiläufig vom Urlaub, den ihr Mann offenbar kurz zuvor heimlich genommen hat. Beim anschließenden Begräbnis tauchen im Kondolenzdefilee dann zwielichtige Gestalten auf, die sich indes nicht halb so dubios verhalten wie Revierchef Danzenberger (Robert Palfrader), der wenig Ermittlungseifer zeigt und selbst an Marks verschwundener Dienstwaffe kaum Interesse.

Kein Wunder, dass Brünhilde Blum, die alle nur beim Nachnamen ihres alteingesessenen Bestattungsunternehmens nennen, lieber eigene Nachforschungen anstellt. Ebenfalls kein Wunder jedoch, dass sie dabei auf eine Wand des Schweigens trifft, an der – so läuft das gern mal im Alpenthriller – Johanna Schönbaum (Michou Friesz) als Patriarchin einer lokalen Skilift-Dynastie mitmauert. Im Bodennebel einer schillernd schönen Bergwelt droht die Serie daher, sich viereinhalb Stunden lang durch handelsübliche Intrigantenstadl-Standards zu quälen.

Stephan Burchardts ästhetisierende Kamera orientiert sich dabei unübersehbar am nebulösen Ambiente beider Staffeln "Der Pass". Patrick Kirsts durchdringender Soundtrack unterfüttert die Bilder dazu mit der Dramatik dreier Staffeln "Dark". Und als die zugehörige Erzählung irgendwann irgendwas mit Menschenhandel und ähnlich missbräuchlicher Barbarei aufweist, schimmern Charlotte Lindholms "Wegwerfmädchen" durch eine Krimiatmosphäre, die dadurch zwar drastischer wird, aber nicht origineller. Bis ihr Titel im zweiten Drittel der sechs Episoden unvermittelt Substanz gewinnt.

Die "Totenfrau" ist schließlich nicht nur selbstständige Bestatterin, die zu Beginn ausgerechnet den eigenen Mann einbalsamieren muss; Mitte der dritten Folge verpasst Anna Maria Mühe ihrer Figur einen Persönlichkeitswandel, für den Bernhard Aichners Romanvorlage allergrößten Dank verdient. Ohne viel zu verraten: Blums Serienname kennzeichnet nicht nur ihre Dienstleistung am verstorbenen Leib; weil alle kriminalistischen Wege zur Sühne, von den juristischen ganz zu schweigen, rasch ausgeschöpft scheinen, schreitet die Witwe zu einer neuzeitlichen Form alttestamentarischer Selbstjustiz, an der Regisseur Nicolai Rohde im eigenen Writer’s Room spürbar Schadenfreude entwickelt.

Stundenlang fährt sie mit Marks restaurierten Unfallmotorrad über anmutige Serpentinen zu Tatverdächtigen, erhält zwischendurch Ermittlungstipps sprechender Leichen auf dem Konservierungstisch und gibt dem Affen der fiktionalen Nische "magischer Realismus" auch sonst viel Zucker, der nicht zufällig bei einer der Mütter horizontal erzählter Serien raffiniert wurde: "Six Feet Under". Während Blums Feldzug an den ihrer Netflix-Schwester "Kleo" erinnert, legt Rohdes Werk Wert auf die Meta-Ebene Bestattungswesen, das – das belegen gelegentliche Flashbacks mit Wolfram Koch als Vater im hauseigenen Institutskeller – der kleinen Brünhilde einst ein ziemlich abgebrühtes Verhältnis zu Tod und Teufel verpasste.

Wenn Anna Maria Mühe als motorradbehelmter Racheengel in eigener Sache nur noch phänotypisch blauäugig durch verschneite Gebirgslandschaften fährt, geht es daher nicht nur ums Who-dunnit (das auch); es geht auch um die Katharsis genannten Befreiungskämpfe gegen innere Dämonen nahezu aller Beteiligten – vom verstockten Entführungsopfer Dunja (Romina Küper) über den windigen Barbesitzer Puch (Gregor Bloéb) bis hin zu Blums schwer pubertierenden Tochter Nela (Emilia Pieske).

Dass die österreichische Provinz – Felix Klare als smarter Dorf-Cop mit Design-Villa inklusive – dabei arg urban ausgestattet wurde und Verdächtige bisweilen allzu verdächtig aus der lässigen Wäsche blicken, stört dabei nur am Rande. Durch den Bruch zahlloser Krimisehgewohnheiten wird das Ganze schließlich bald hochinteressant. Dafür muss man zwar anderthalb Stunden leider auch schon wieder längst konventioneller Nordic-Noir-Dramaturgie überstehen, aber es lohnt sich. Rache, süßsauer serviert: lecker!

"Totenfrau" steht ab sofort bei Netflix zum Abruf bereit.