Dass "Knives Out"-Schöpfer Rian Johnson Krimiklassiker wie "Columbo" oder "Detektiv Rockford" als Lieblingsserien seiner Kindheit anführt, mag angesichts der detailverliebten Rätselfreude in seinen Filmen kaum überraschen. Schon eher überrascht, dass er sein eigenes Seriendebüt im Jahr 2023 mit einem von diesen Vorbildern inspirierten, altmodisch angehauchten Crime Procedural gibt. Zehn Folgen mit je einem Mordfall der Woche plus einer starken Horizontalen – das könnte arg konventionell enden, wenn es nicht von höchst originellen Konstellationen und vor allem von einem Ausnahmetalent wie "Russian Doll"-Star Natasha Lyonne getragen würde.

Hier spielt sie die Rolle der Charlie Cale, Cocktailkellnerin in einem etwas schäbigen Casino in Las Vegas, weit weg vom Strip. Als eine Kollegin umgebracht wird, offenbar auf Geheiß des schmierigen Casino-Chefs Sterling Frost Jr. (Adrien Brody), stellt Charlie Nachforschungen an, kommt ihm und seinem bedrohlichen Sicherheitschef Cliff (Benjamin Bratt) auf die Schliche, was sie selbst wiederum in größte Gefahr bringt. Zwar hat Charlie null detektivische Erfahrung, aber eine Art inneren Lügendetektor, der ihr untrüglich anzeigt, wenn ihr Gegenüber wissentlich die Unwahrheit sagt. "Bullshit", entfährt es ihr dann wie eine unwillkürliche körperliche Reaktion. Eine Gabe, die ihr in der Vergangenheit schon jede Menge Ärger eingebracht hat. 

Der Pilot endet damit, dass Charlie in ihrem verbeulten, knallblauen Plymouth Barracuda auf der Flucht ist, was die nachfolgende Roadmovie-Struktur der Serie einleitet: Von Kleinstadt zu Kleinstadt und von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob schlägt Charlie sich durch und versucht dabei, unterm Radar zu bleiben. Das Amerika, dem sie begegnet, ist ein Land der grenzenlosen Käuflichkeit und der kleinen Grausamkeiten. Als ob sie es magisch anzöge, passiert überall, wo sie aufkreuzt, früher oder später ein Mord – am Truck-Stop, an der Kartrennbahn, im Dinner-Theater und anderswo. Aufgrund ihrer besonderen Kombination aus Intuition, Neugier und Gerechtigkeitssinn kann Charlie gar nicht anders, als die jeweiligen Täter zu überführen. Auch wenn das plötzliche Aufsehen jeweils zur Folge hat, dass sie dann schnell weiterziehen muss.

Ähnlich wie einst bei "Columbo" ist das Publikum der Heldin voraus, weil es zu Beginn jeder Episode sieht, was passiert ist, bevor Charlie es als Detektivin wider Willen herausfindet. Die Verbrechen an sich sind nicht allzu schwer zu knacken, komplizierter als die Lösung gestaltet sich meist die Beweislage. Johnson und die Showrunner-Schwestern Nora und Lilla Zuckerman sorgen für einen ebenso einfallsreichen wie sorgfältigen Aufbau jedes Falls, unterstützt von prominenten Gaststars wie Ellen Barkin als alternde Schauspielerin, Chloë Sevigny als deprimierte Rocksängerin, Nick Nolte als Filmemacher mit dunkler Vergangenheit oder Joseph Gordon-Levitt als vorbestrafter Multimillionär.

Im Zentrum aber steht jene Schauspielerin, die schon "Orange Is the New Black" und "Russian Doll" mit ihrer Naturgewalt bereicherte und von der Oscar-Preisträger Taika Waititi schwärmte, als das "Time Magazine" sie Mitte April unter die 100 einflussreichsten Personen des Jahres wählte: Er sei "immer wieder beeindruckt von ihrem Selbstvertrauen, von der Art und Weise, wie sie jeden Raum, in dem sie sich befindet, beherrscht, und wie sie das Publikum zu sich heranlockt, wo sie dann mit ihm spielen kann". 

Lyonne legt ihre Charlie straßenschlau, geschwätzig und ein bisschen verrückt an, weiß die Mischung aber stets so zu kalibrieren, dass sie nicht zur Nervensäge wird. Jedenfalls nicht fürs Publikum von "Poker Face" – für die Mörder in der Geschichte, die ohne sie davonkommen würden, natürlich schon. Die kompromisslose Empathie, die Lyonne ihrer Figur einflößt, bildet das Herzstück der Serie; ihre scheinbar aus der Zeit gefallene Coolness, wie sie sonst fast ausschließlich männliche Hauptdarsteller verströmen dürfen, hat das Zeug dazu, eine augenzwinkernde Komplizenschaft mit dem Publikum einzugehen. In einem Interview mit dem "Hollywood Reporter" vergleicht Lyonne, die eine der zehn Episoden selbst geschrieben und inszeniert hat, die Wellenlänge ihrer Figur – durchaus treffend – mit der des Dudes aus "The Big Lebowski".

Für Lyonne bedeutet "Poker Face" ein besonderes Momentum, da sie als respektlose Jessica-Fletcher-Wiedergängerin viel Zeit und Raum erhält, um eine vertraute Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Doch auch für die zu NBC Universal gehörende Streaming-Plattform Peacock, die zuvor eher unspektakulär vor sich hindümpelte, erwies sich die Serie Anfang des Jahres als Glücksgriff: Sie schaffte es in den USA auf den dritten Platz der Nielsen-Streaming-Charts, wurde häufiger abgerufen als jede andere Peacock-Serie, erzielte eine 99-Prozent-Bewertung auf "Rotten Tomatoes", wurde um eine weitere Staffel verlängert und gilt schon jetzt als potenzieller Abräumer in der Comedy-Kategorie der Emmys.

"Poker Face", auf Abruf bei Sky Q und Wow sowie montags um 20:15 Uhr auf Sky Atlantic