Märchen, das ist ihr Daseinsgrund, handeln nur selten im Jetzt und Hier. Wann immer es dort einmal war, in Ländern vor unserer Zeit zum Beispiel oder auf Raumschiff Enterprise, wo wir zwar das Jahr 2200 schreiben, aber stilistisch die Roaring Sixties, bleibt der kulturelle Kontext gerne abstrakt. Da der Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt sind, kann Fantasy halt überall und nirgends spielen – sogar anno 1994, als die Frauenbäuche frei waren, die Männerhemden kariert, die Lieder gallig und auch sonst vieles nicht so wie sechs Jahre zuvor, als Wolfgang Hohlbein den Bestseller zu einer Serie geschrieben hat, die uns ab heute bei Prime Video in fremde Welten entführt: "Der Greif".

Während das Buch von Deutschlands erfolgreichstem Fantasy-Autor irgendwann zwischen Weltkrieg und Wende spielt, siedeln seine größten Fans in ihrer Funktion als Showrunner den magischen Stoff im Zeitalter von Grunge oder Girlies an. Und das geht ungefähr so: Am 16. Geburtstag wird der Außenseiter Mark Zimmermann (Jeremias Meyer) von seinem Bruder Thomas (Theo Trebs) in die Geheimnisse des titelgebenden Fabelwesens eingewiesen, das in einem Land vor unserer, vor allem aber Marks Zeit sein Unwesen treibt und nur von ihm besiegt werden kann.

Mit der süßen, aber sonderbaren Becky (Lea Drinda) und Zoran Pingel als Plattenverkäufer-Freak Memo wechselt Mark fortan regelmäßig die Realitäten, um in der diesseitigen ein Mann zu werden und in der abseitigen ein Held. Märchenhafte Mystery eben mit Millionenbudget für Computertricks und Kulissen der opulenteren Art, die nicht erst seit Harry Potter und Herr der Ringe Milliarden umsetzt. Ein Branchenstar wie Hohlbein hat damit 70 Jahre nach seiner Geburt als Sohn eines Krefelder Automechanikers rund 53 Millionen Bücher verkauft. Darunter „Der Greif“, den seine Fans seit Kindheitstagen – Erol Yesilkaya (Buch) und Sebastian Marka (Regie) – nun sechsteilig adaptiert haben. Besser noch: interpretiert.

Während das Original den Großteil seiner Handlung unter Monstern fern deutscher Großstädte verbringt, mit denen schon Marks Vater (Golo Euler) zu kämpfen hatte, verweilt Yesilkayas Skript weitaus länger im realen Umfeld der Neunzigerjahre. Bevor sich das Nerd-Trio am Ende zweier Folgen erstmals in jener surrealen Parallelwelt wiederfindet, die Marka mit spürbarer Freude an Gothic-Horror ausstatten lässt, erzählt er folglich eine Coming-of-Age-Geschichte und schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe.

Bedient werden vom Greif nämlich nicht nur Fantasy-Fans, sondern auch jene im zugkräftigen, weil internettauglichen Young-Adult-Segment. Um es vorwegzunehmen: bei ihrer bunt kostümierten Jagd auf innere wie äußere Dämonen funkt es zügig zwischen Mark und Becky, wozu der drollige Hornbrillenträger Memo die heiteren Momente besteuert und als Plattenverkäufer zudem einen Soundtrack mit dem Besten der Nirvana-Epoche. „Der Greif“ holt die Generationen X bis Z also dort ab, wo Historytainment à la „Stranger Things“ oder „Dark“ enden. Und das ist auch bitter nötig.

Dramaturgisch nämlich reproduziert das Format nahezu sämtliche Klischees, die Fiktionen jenseits der trockenen Wirklichkeit für Außenstehende so nervig machen. Auf dem (natürlich) verwunschenen Friedhof von Krefelden, der (natürlich) voll gotischer Skelettengel ist, ruft (natürlich) ein Uhu, als Thomas seinem Bruder Mark auf dem (natürlich) mit Antiquitäten vollgestopften Dachboden einer (natürlich) riesigen Gruft zeigt, während der rechtsrheinische Mond (natürlich) Flutlichtqualitäten hat und dabei (natürlich) von einem Gewitter unterstützt wird, das zwar 15 Minuten am Stück zeitgleich zu Blitzen donnert, aber furztrocken bleibt.

Mit dramaturgischer Logik nimmt Sebastian Marka es also auch außerhalb der mittelalterlich anmutenden Fantasy-Sphäre nicht immer so ganz genau. Aber gut: Das machen hierzulande selbst sachlich gemeinte Zeitgeschichtsmelodramen nicht, wenn sie den NS-Staat vor 1945 mit Widerstandskämpfern vollstopfen oder die DDR danach mit Stasi-Schergen. Fantasy hat da naturgemäß mehr Spielraum. Und den nutzt das serienerfahrene Produzentenduo Wiedemann & Berg für ein Hybrid, dem der Urheber persönlich Absolution erteilt.

"Hundertprozentige Übereinstimmung von Roman und Verfilmung gibt’s nie", urteilt Wolfgang Hohlbein im Gespräch mit DWDL über ein Projekt, das er über Jahre hinweg aktiv begleiten konnte. "Ich bin aber zufrieden und gespannt, wie andere ihre Umsetzung finden". Der Grund: Die – eigentlich unfassbar – erste Verfilmung eines seiner rund 100 Werke – liefere halt "tolle Bilder". Unablässig, von Anfang bis Ende, gern auch im Überwältigungsmodus. Und manchmal, so ungern er das zugibt, "sind Bilder Worten einfach überlegen".

Wer ähnlich tickt, wird davon fast sechs Stunden lang mit einer Vielzahl Nebenrollenpromis wie Armin Rohde oder Fabian Busch und dem längst unvermeidlichen Thorsten Merten überwältigt. Fürs sachlichere Publikum haben Portale und Mediatheken dagegen ein üppiges Repertoire dialoglastiger Serien im Angebot. Und der variablere Rest? Darf sich daran erfreuen, dass dieses realfantastische Krefelden, eine Erweiterung von Yesilkayas (und Hohlbeins) Heimatstadt, Schauplatz einer ziemlich netten Lovestory im Grunge-Sound anno 1994 ist. Auch irgendwie märchenhaft. Nur meist ohne Monster.

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