„Ein paar Folgen, dann bist du drin.“ Was sogar für einige der letztlich besten Serien der vergangenen 20 Jahre gilt, ist in Zeiten von TikTok ein Luxus, den sich kaum noch eine neue Serie leisten kann. Tempo ist unserer Aufmerksamkeitsökonomie längst zu einer wichtigen Disziplin geworden und „Liebes Kind“ liefert ab, verschwendet vom Start weg keine Sekunde. Eine Eins mit Sternchen. 

Und so geht's los: Mutter und Tochter geraten auf der Flucht vor einem Peiniger, der sie offenbar jahrelang in einem verstörenden Verlies mit perfiden Regeln gefangen hielt, in einen Unfall. Im Krankenhaus versuchen sich Personal und Polizei ein Bild davon zu machen, was passiert ist - doch die Informationen der zwölfjährigen Hannah über das, was sie Zuhause nennt, („Man braucht keine Freunde, wenn man eine glückliche Familie hat“) verstören mehr als sie aufklären. Und wollte Mama Papa umbringen? Die Serie starte da, wo andere Thriller enden - so bewirbt Netflix die Serie und auch wenn es cheesy klingt: Es stimmt.

Keine Viertelstunde ist vergangen und die immer rätselhafter werdende Geschichte - erzählt mit stetigen Perspektivwechseln, mal gedacht, mal gesprochen - hat einen bereits gänzlich in den Bann gezogen. Zu sehr haben sich die Bilder von dem fensterlosen Verlies ganz zu Beginn eingeprägt. Man will einfach wissen, was es damit auf sich hat. Ein Sog, den man schon lange nicht mehr erleben durfte. Die Serie macht dem Publikum ein ziemlich gutes Angebot: Sie hat viel zu geben, verlangt aber mit immer mehr Fragen statt Antworten auch volle Aufmerksamkeit. Vorweg sei aber beruhigt: Sie kommen, die Antworten - wenn auch spät. 

Erst einmal wird es immer irritierender: Ein älteres Ehepaar hat die Hoffnung, die verletzte Mutter im Krankenhaus könnte ihre seit Jahren vermisste Tochter Lena (Kim Riedle) sein, doch im Krankenhaus angekommen, müssen die Eltern (gespielt von Justus von Dohnány und Julika Jenkins) frustriert feststellen: Sie ist es nicht. Doch die zwölfjährige Hannah identifiziert auf dem Flur des Klinikums plötzlich ihren Opa. Was zum Teufel geht hier vor nur sich? Immer mehr gebrochene Figuren, deren Identitäten sowie Absichten im Halbdunkel bleiben.

Das Rezept für den intensiven, verstörenden Einstieg ist eine komplexe Mixtur aus dem von Isabel Kleefeld zusammen mit Julian Pörksen doch recht umfassend weiterentwickelten Drehbuch basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von Romy Hausmann - und wirklich herausragend guter Arbeit in den Gewerken. Denn was sofort auffällt und womit sich „Liebes Kind“ auf Anhieb vom eigentlich schon großen Angebot deutscher Thriller abhebt, ist der stimmige Look & Feel der Serie. Casting, Regie, Kamera, Musik. 

Empfohlener externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Youtube, der den Artikel ergänzt. Sie können sich den Inhalt anzeigen lassen. Dabei können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Mit Exzellenz beweist „Liebes Kind“, wie Literaturverfilmungen aus einer starken Roman in audiovisueller Umsetzung einen künstlerischen Mehrwert entwickeln, wenn sie so stimmig umgesetzt werden. Da wäre die außergewöhnlicher Regie, die Kleefeld und Pörksen selbst übernommen haben. Die meist subtilen Bilder und zurückgezogenen Perspektiven von Martin Langer und Alexander Fischerkoesen, die Musik vom zweifachen Oscar-Preisträger Gustavo Santaolalla. Das alles ergibt großes Kino in Serienform. 

Getragen wird es von einem insgesamt schon starken Schauspiel-Ensemble, wo sich jedoch Haley Louise Jones als Kripo-Kommisarin und besonders Naila Schuberth als zwölfjährige Hannah nochmals empfehlen. Bemerkenswert, wie verstörend weil kontrolliert unemotional Naila Schuberth spielt. Auf ihren Schultern lastet zum Einstieg die Glaubwürdigkeit der ganzen Erzählung - und sie trägt sie. Sie ist der Star von „Liebes Kind“, das sich über die sechs Folgen mit Antworten erst einmal Zeit lässt. Stattdessen sehen wir immer wieder in Rückblenden das Leben in der Gefangenschaft, geprägt von Regeln und Konditionierung. Im Hier und Jetzt leiden wir mit der von Kim Riedle gespielten Lena, die zwar körperlich dem Verlies entkommen ist, aber im Kopf noch immer gefangen scheint.

„Liebes Kind“ ist ein komplexer Psychothriller, der anfangs mit Tempo und Intensität überrollt, sich später etwas mehr Zeit nimmt und am Ende die investierte Zeit belohnt. Besonders wird die Serie aus der Feder von Chefautorin Isabel Kleefeld durch die im Vergleich zur Buchvorlage klug erweitere Geschichte und eine Highend-Inszenierung, die sich abhebt vom Einheitsbrei üblicher Thriller-Ware im deutschen Fernsehen. Für Netflix ist dieser Hit ein wichtiger Schritt: Man begibt sich mit diesem Thriller auf ein in Deutschland eigentlich schon gut bestücktes Terrain; raus aus der Genre-Serie. Das ist zugänglicher und bedient ein breiteres Publikum. Wenn Mainstream aber so aussieht, wie „Liebes Kind“, dann darf Netflix hier gerne weiter wildern.

"Liebes Kind" steht ab sofort bei Netflix zum Abruf bereit