Die Fähigkeit zu einer realistischen Selbsteinschätzung ist beruflich wie privat eine wichtige Eigenschaft, die gar nicht hoch genug zu bewerten ist. Wer bin ich, was kann ich und was mache ich eigentlich hier? Und vielleicht noch wichtiger: Was sollte ich lieber sein lassen? Wer auf diese Fragen antworten kann, hat viel gewonnen. Die Macherinnen und Macher der neuen ZDF-Serie "Die zweite Welle" haben auf keine dieser Fragen eine zufriedenstellende Antwort gefunden - und nun wird das Ergebnis für alle zu sehen sein. 

Die Serie aus dem Hause Gaumont (in Zusammenarbeit mit Ninety-Minute-Film) dreht sich um eine Gruppe von Freunden, die 2004 zu dem Zeitpunkt in Thailand war, als das Land von einem Tsunami getroffen wurde. Harry (Johann von Bülow), Matthias (Özgür Karadeniz) und seine Frau Britta (Katrin Röver) sowie Brittas Bruder Heiko (Tim Bergmann) haben die Katastrophe damals hautnah miterlebt. Harrys Frau Julia (Luise Bähr) ist durch den Tsunami umgekommen, was den Familienvater aus der Bahn geworfen hat. 15 Jahre später erfahren sie, dass Julias Schwester Alexandra (Karoline Schuch) überlebt hat - doch anstatt sich zu freuen, scheint die Clique besorgt zu sein über die Frau, die sie in Deutschland besucht. Vor allem Harry, der seine Tochter Noa (Meira Durand) alleine erzieht, scheint nicht glücklich über das plötzliche Auftauchen von Alexandra zu sein - immerhin die Schwester seiner verstorbenen Frau Julia. Die Freunde dachten, Alexandra sei tot - tatsächlich saß sie die letzten Jahre in einem thailändischen Knast.

Das ganze Unheil nimmt bereits in der ersten Folge seinen Lauf. Denn ganz offensichtlich wollten die Verantwortlichen dem Titel auch Taten folgen lassen - und dementsprechend auch den verheerenden Tsunami abbilden. Nun weiß man spätestens seit dem RTL-Katastrophenfilm "Helden" aus dem Jahr 2013, dass das so etwas auch nach hinten losgehen kann. Bei Gaumont haben sie es trotzdem versucht - und sind auf ganzer Linie gescheitert. Schon die nahende Katastrophe ist wenig subtil: Da kommt der bedeutungsschwangere Kameraschwenk auf das Meer, die Musik brummt bedrohlich, die Palmen wehen im Wind und die Tiere nehmen Reißaus. 

Tsunamiszenen "besondere Herausforderung" 

So weit, so vorhersehbar. Alle Zuschauerinnen und Zuschauer dürften wissen, was danach folgt. Doch statt zu diesem Zeitpunkt einfach in das Hier und Jetzt zu springen, wollte man die Welle zeigen. Und als die kommt und Julia und ihre kleine Tochter erwischt, fühlt man sich vor dem Bildschirm unweigerlich an schlimme "Helden"-Zeiten erinnert. Die Macherinnen und Macher wissen vermutlich auch, dass das Murks ist. Die Regisseure André Erkau und Friederike Heß geben sich alle Mühe, so wenig Welle wie möglich zu zeigen. Und es sind dann auch nur wenige Sekunden - aber die reichen, um die Latte von Beginn an niedrig zu hängen. 

Produzent Ivo-Alexander Beck erklärte im Vorfeld der Veröffentlichung, dass die Tsunamiszenen eine "besondere Herausforderung" gewesen seien. Alles in einem Studio zu drehen, sei finanziell nicht möglich gewesen, deshalb sei man "kreativ" geworden. Vermutlich wird man beim nächsten Mal rationaler agieren und den Tsunami gleich ganz weglassen. Ganz offensichtlich gab es nicht genügend Geld, um die Welle so realistisch wie möglich zu zeigen. In den weiteren Folgen gibt es immer wieder Rückblicke auf die Thailand-Zeit - hier sind nur noch Nahaufnahmen von den Menschen im Wasser zu sehen. Das macht es etwas besser, zeigt aber nur umso deutlich, dass hier ganz offenbar gespart wurde. 

"Die zweite Welle" kränkelt aber nicht nur an schlechten Special Effects. Auch die Bücher von Sarah Schnier sind an vielen Ecken so platt, dass sie vermutlich bei "GZSZ" abgelehnt werden würden. Da hat Julia in Thailand eine Affäre mit Matthias und wird beim Fremdknutschen von Alexandra überrascht, Heiko ist heimlich schwul und flirtet mit dem thailändischen Hotel-Rezeptionisten - und später kommt es noch zu einem Missverständnis und einem daraus resultierenden Vertrauensverlust durch vermeintlichen Drogenkonsum. Alle diese Storys sind zudem nicht schnell beendet, sondern werden immer wieder zum Thema. 

Die zweite Welle © ZDF und Nicolas Velter / [M] Claudia Schlicht. Dieses Key Visual der Serie ist eine ziemlich präzise Zustandsbeschreibung von "Die zweite Welle".
 

Aber auch die eigentliche Story will nicht so recht an Fahrt aufnehmen. Es wird viel zu schnell klar, welches Geheimnis hinter Alexandra und den Freunden steckt. Und so halten sich die angekündigten "Psychothriller-Elemente" auch stark in Grenzen, "Die zweite Welle" ist leider viel zu oft ein billiges Familiendrama. Tatsächlich hätte es ja einen Reiz ausgemacht, die Figur der Alexandra als dunkle Wundertüte zu inszenieren, vor der alle Angst haben. Doch dazu ist die Figur zu schnell zu durchschaubar. 

An anderen Stellen wirkt "Die zweite Welle" völlig überzeichnet und wie eine Karikatur. Als die Welle kommt, ruft Alexandra in Richtung ihrer Schwester theatralisch und doch wenig überzeugend, dass sie laufen soll. In einer anderen Szene vergeht sich Alexandra an ihrer Mutter - und trotz ihrer offensichtlichen Aggressivität bekommt niemand etwas mit. Und dann gibt es immer wieder völlig dilettantisch umgesetzte Cliffhanger, bei denen es wohl besser gewesen wäre, einen harten Cut zu machen, statt sich in Theatralik zu wälzen. 

Nachvertonung und neuer Einstieg

Zu allem Überfluss kommt, dass die Serie an einigen Stellen noch einmal nachvertont wurde - und man das als Zuschauer leider stark mitbekommt, weil das neu Eingesprochene so überhaupt nicht zum Rest passen will. Gegenüber DWDL.de erklärt Bastian Wagner von der ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie II, dass bei der Serie "wie bei fiktionalen Produktionen üblich [...] an diversen Stellen eine Nachvertonung nötig" war. Pauschal lasse sich das nicht begründen, sagt Wagner. "Häufig ist der Grund, dass der vorliegende O-Ton nicht in ausreichender Qualität vorlag. Es kann aber auch vorkommen, dass einzelne Szenen gekürzt wurden und man Informationen aus diesen Szenen an anderer Stelle platziert hat." Trotzdem ist man beim ZDF der Meinung, dass die Nachvertonung bei "Die zweite Welle" nicht über ein normales Maß hinaus stattgefunden hat. 

Dass bei "Die zweite Welle" nicht alles nach Plan gelaufen ist, zeigt wohl auch die Tatsache, dass man den Einstieg in die erste Folge noch einmal verändert hat. Wochenlang konnten sich Journalistinnen und Journalisten die Serie vorab im Pressebereich des ZDF ansehen - aber erst vor einigen Tagen wurde noch ein Intro eingeführt, in dem Johann von Bülow aka Harry zu sehen ist und noch eine kurze Erklärung abgibt, die den Zuschauerinnen und Zuschauern den Einstieg erleichtern soll. 

Nichts, was man gesehen haben muss

Dass einige Storylines nicht nur in Thailand und Deutschland spielen, sondern etwas überraschend auch in Belgien, macht die Serie übrigens nicht besser. Zurückzuführen ist das aber auf die Tatsache, dass die Produktion durch das Belgian Tax Shelter gefördert wurde - womit wieder mal der Beweis erbracht wurde, dass Serien nicht unbedingt besser werden, wenn mehr Menschen aus unterschiedlichen Ländern mitreden können bzw. wenn man Geld abgreifen will und dann gezwungen wird, in dem jeweiligen Land zu drehen. 

"Die zweite Welle" ist also nichts, was man unbedingt gesehen haben muss. Und das ZDF tut auch alles dafür, um seine Zuschauerinnen und Zuschauer nicht unnötig mit den sechs Folgen zu belästigen. Die Pressearbeit zur Serie haben Sender und Produktionsfirma ausgelagert - neben der Premiere beim Film Festival Cologne hat es keinen großen PR-Aufschlag im Vorfeld der Veröffentlichung in der Mediathek gegeben. Und auch der lineare Sendeplatz macht nicht den Eindruck, als würde man beim ZDF bedingungslos an das Projekt glauben: Die sechs Episoden sind zwischen den Jahren in zwei Dreierpacks am späten Abend zu sehen. Immerhin hier beweist das ZDF eine realistische Selbsteinschätzung. 

"Die zweite Welle" steht seit Samstag, den 4. November, in der ZDF-Mediathek zum Abruf bereit. Linear erfolgt die Ausstrahlung am 27. und 28. Dezember jeweils ab 22:15 Uhr. 

Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals Anfang November zur Veröffentlichung der Serie in der ZDF-Mediathek.