Sie heißen "Du trägst keine Liebe in dir", "Junimond", "Alles wird sich ändern" oder "Weinst Du". Die Songs der Band Echt stürmten Ende der 90er die Charts. Und wer nicht spätestens jetzt von mindestens einem der Lieder einen anhaltenden Ohrwurm hat, war damals wohl kein echter Fan von Kim, Kai, Puffi, Flo und Gunnar. In der ARD-Mediathek gibt es ab sofort eine dreiteilige Doku mit dem Titel "Echt - Unsere Jugend", in der die Geschichte der Band noch einmal aufgearbeitet wird - und das ist gleich auf verschiedenen Ebenen bemerkenswert. 

"Ein Film von Echt", informiert ein Schriftzug ganz zu Beginn der ersten Folge. Tatsächlich steht keine klassische Produktionsfirma hinter den drei Teilen. Dafür haben sich bei der ARD alle Anstalten zusammengetan, die nicht bei Drei auf den Bäumen waren: SWR, MDR, NDR, RBB, BR, Radio Bremen und dazu auch noch ARD Kultur. Buch, Regie und Schnitt hat Kim Frank übernommen, damals der Sänger von Echt und heute als Regisseur und Autor unterwegs. Er agierte auch als Produzent und führt als Erzähler durch die drei Folgen. Die anderen Bandmitglieder waren auf unterschiedliche Weise involviert, Andreas "Puffi" Pufpaff etwa bei der Digitalisierung früherer Aufnahmen, Kai Fischer beim Kostümbild.  

In den drei rund einstündigen Folgen arbeitet man nicht nur mit viel Archivmaterial von TV-Sendern, die belegen, wie groß das Interesse damals an Echt war. Einen sehr intimen Blick auf die Bandmitglieder in der damaligen Zeit ermöglichen viele Privataufnahmen, die die Jungs damals gemacht haben. Mehr als 240 Stunden sind damals mit der "Echt-Cam" entstanden, vieles davon war bislang nie zu sehen. Man sieht, wie Viva bei ihnen zu Hause drehte, wie sich die Jungs backstage filmten und wie sie im Tonstudio Musik machten.

Als der Erfolg kam, waren die fünf Bandmitglieder noch im Teenageralter. Und so bildet die Doku dann auch oft die völlig belanglosen Themen ab, die Heranwachsende in dem Alter beschäftigen. Man sieht, wie die Musiker kiffen oder nackt durch ein Hotel rennen. Etwas später hält einer von ihnen seinen Penis sekundenlang in die Kamera und schwingt ihn hin und her. Es gibt Nahaufnahmen von Pickeln und das Wort "wichsen" wird in der ersten Episode inflationär genutzt. Oder wie sie es später in einem Song formulierten: Wir haben’s getan.

"Wer guckt sich das später an?"

Wenn man nicht gerade sehr prüde ist und einem das Teenager-Vokabular nicht verschreckt, muss man aber auch mit einer Kamera klarkommen, die scheinbar zu keinem Zeitpunkt ruhig ist. Die Echt-Cam hat mehr verwackelte Aufnahmen produziert als ein Musikvideo von Scooter. Einen Blick von Außen auf die Band gibt es kaum. Die vielen intimen Aufnahmen sorgen dafür, dass "Echt - Unsere Jugend" ziemlich intim, in Teilen auch sehr nerdig, ist. "Wer guckt sich das später an?", fragt irgendwann eine Frau, als die Echt-Cam mal wieder läuft. "Da lachen wir später drüber", lautet die Antwort. 

Echt - unsere Jugend © SWR/Echt Die Jungs von Echt 1998 im Hotel-Whirlpool

"Wir waren eine Band, die vielen Menschen viel bedeutet hat. Aber keinem hat sie so viel bedeutet wie uns. Es war die aufregendste Zeit unseres Lebens", sagt Kim Frank ganz zu Beginn der Doku etwas bedeutungsschwanger im Off. Und man wird das Gefühl nicht los, dass die Zielgruppe der Doku vor allem aus fünf Personen besteht: Kim, Kai, Puffi, Flo und Gunnar. An einigen Stellen ist es ein so tiefer Deep Dive in die Band-Geschichte, dass zu befürchten ist, dass auf dem Weg einige Zuschauerinnen und Zuschauer aussteigen werden. Schade, dass die Interviews im Hier und Jetzt nur die letzten 15 Minuten der Doku füllen - die sind dafür sehenswert und es wird teilweise auch sehr emotional. Ansonsten leben die drei Folgen in der Vergangenheit. 

Es lohnt sich allerdings, dranzubleiben. Denn es geht längst nicht nur um Sex mit Groupies und prollige Teenager-Popstars. Die Doku wird ziemlich schnell ernst: So erfährt man, dass Kim Frank schon früh unter Panikattacken litt und fürchtete, einen frühen Tod zu sterben. Kai Fischer litt und leidet bis heute unter Depressionen, zur Zeit der Band verschwand er teilweise ohne Angabe von Gründen von Konzerten, was seine Bandmitglieder nicht verstehen konnten. In ihrem ersten Festivalsommer 1999 wurden die Musiker bei einem Auftritt mit Gegenständen beworfen, Kim Frank erlitt eine Platzwunde am Kopf. Auch die Beziehung des Sängers mit Enie van de Meiklokjes ist Thema der Doku - und wie er sich dadurch von seinen Freunden entfernt hat. 

Gleichzeitig erzählen die drei Teile der Doku auch vom Kampf der Band gegen das ihr von Viva und der "Bravo" aufgedrückte Image. Die Aufnahmen der Band legen nahe, dass sich allen voran die "Bravo" damals nicht an Absprachen hielt und, noch schlimmer, Aussagen der Musiker einfach ausdachte und abdruckte. Und während sie immer wieder live auftreten wollten, forderten TV-Sender Playback-Auftritte. Teilweise ist es auch ein Kampf gegen den eigenen Manager, der stets das Beste für die Jungs wollte - dabei aber ein ums andere Mal übers Ziel hinausschoss. Mit der Folge, dass das Selbstbewusstsein von Kim Frank litt, weil plötzlich die ganze Nation über die Größe seines Glieds Bescheid wusste. Und irgendwann war es dann vorbei. Zwar ohne großen Knall, aber die Doku arbeitet gut heraus, wie sich die fünf Freunde langsam voneinander entfernten und wie es letztlich zum Bruch kam. 

Der Blick durchs Schlüsselloch ist ein Trend 

Durch die vielen Privataufnahmen ist "Echt - Unsere Jugend" eine Doku, die einen unverstellten Blick ermöglicht auf die Band der damaligen Zeit. Und genau darauf setzt aktuell nicht nur die Produktion der ARD. Bei Netflix gibt es derzeit gleich zwei Dokus, die auf eine ähnliche Strategie setzen: "Beckham" und "Robbie Williams". Auch hier gibt es viele Aufnahmen zu sehen, die bislang unveröffentlicht waren. Die Williams-Doku geht teilweise in eine ähnliche Richtung wie die Echt-Reihe, indem viel über die Depressionen des internationalen Popstars gesprochen wird. Robbie Williams kommentiert sich und seinen Zustand immer wieder selbst - und liegt dabei nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet auf seinem Bett. Und wenn man die erste etwas wirre Folge übersteht, wird man mit drei viel besseren Episoden belohnt, in denen der Mensch Robbie Williams mit all seinen Problemen seziert wird. 

Robbie Williams und Beckham © Netflix Robbie Williams und David Beckham, damals

Im direkten Vergleich geht es bei "Beckham" nicht so sehr um die Tiefs des Fußballstars wie es bei "Echt - Unsere Jugend" und "Robbie Williams" um die Probleme der Musiker bzw. des Sängers geht. Auch ist die Netflix-Produktion in einigen Teilen sehr selektiv, da werden teilweise ganze Karriere-Abschnitte einfach weggelassen - andere dafür umso intensiver beleuchtet. Und dennoch ist diese Produktion von ihrer Machart her wohl die klassischste. Was sie mit "Echt" und "Robbie Williams" vereint: Private Aufnahmen aus diversen Umkleidekabinen, bei den Beckhams zu Hause oder Backstage bei Konzerten der Spice Girls, wo sich David Beckham offenkundig oft rumgetrieben hat, lassen einen faszinierenden Blick durchs Schlüsselloch zu. Und sorgen dafür, dass man auch diese Doku nicht verpassen sollte, wenn man sich auch nur im entferntesten für die Figur David Beckham interessiert. 

Zugegeben: Geri Halliwell, zeitweise die Freundin von Robbie Williams, und Victoria Beckham sind definitiv die besseren Kamerafrauen als die Jungs von Echt. Halliwell und Beckham konnten das Aufnahmegerät meist stabil halten, was zu weniger verwackelten Aufnahmen führte als bei der ARD-Produktion. Alle drei Dokus punkten dennoch mit einem unfassbaren Schatz an Privataufnahmen, bei dem sich heute allen voran die Frage stellt: Wer genau war damals eigentlich so schlau, die Kamera mitlaufen zu lassen? Und wieso eigentlich? In den 90ern hatte wohl keiner der Stars auch nur die leiseste Hoffnung, diese Aufnahmen mal an Netflix oder (im Fall von Echt) an die ARD verkaufen zu können. 

Das führt unweigerlich zu der Frage, welche Stars sonst noch alte Privataufnahmen in ihren Kellern liegen haben. Michael Ballack vielleicht oder Steffi Graf? Oder vielleicht könnte man anhand von möglichen Privataufnahmen nochmal den Weg von Guildo Horn zum ESC nachzeichnen? Und wie war das damals genau mit der deutsch-amerikanischen Boyband US5 und Lou Pearlman? Und haben Bill und Tom Kaulitz vielleicht die Kamera mitlaufen lassen, als sie von Tokio-Hotel-Fans in ihrem Haus belagert wurden? 

Die Liste an möglichen Dokus scheint unendlich. Mal abwarten, welches Genie zur Hochzeit seiner oder ihrer Karriere so schlau war, mitzufilmen, um das Material später gewinnbringend zu vermarkten. Und bis dahin empfiehlt der Autor dieses Textes eine Spotify-Rundreise durch die Songs von Echt (aktueller Ohrwurm: Du trägst keine Liebe in dir). 

"Echt - Unsere Jugend" steht ab sofort in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit.

"Beckham" und "Robbie Williams" gibt es bei Netflix.