Blut, das wusste schon Goethes Mephisto, ist ein besondrer Saft. Dicker als Wasser sind zwar auch Schneematsch und Smoothies. Blut dagegen steht für Leben und Tod, Anatomie und Pathos, Vergänglichkeit und Sein, Schweiß und Tränen, Wurst oder Winnetous Freundschaft zu Shatterhand – weshalb es in Strömen von Leinwand und Bildschirm fließt. Selten jedoch war Blut bedeutungsschwerer als in der ARD-Serie "Oderbruch", obwohl daran dort zunächst mal Mangel besteht.

Denn als zwei Angler am Ostrand der Republik einen Leichenberg von geradezu biblischem Ausmaß entdecken, sind – genauer: wurden rund 100 menschliche und tierische Kadaver darin scheinbar voll ausgeblutet. Ein Mysterium, das der polnische Kommissar Stanislaw Zajak (Lucas Gregorowicz) mithilfe des eingeborenen Roland Voit (Felix Kramer) entschlüsseln soll und dabei auf weitere Besonderheiten saftiger Natur trifft.

Das dünnbesiedelte Grenzgebiet, meint ein ortsansässiger Pathologe, sei mit dem Blut der letzten Weltkriegstage getränkt. Unterm Leichenberg findet sich zudem ein Kellerverlies voller Blutegel in Einweckgläsern. Die Bewohner eines nahen Landschulheims werden regelmäßig zur Blutspende abkommandiert. Und dann hat Voits Jugendliebe, die hinzuzitierte Ex-Polizistin Maggie Kring (Karoline Schuch), auch noch blutrotes Haar.

Alles angemessen schleierhaft also für ein Thriller-Setting, das die ARD über acht annähernd sechzigminütige Folgen streckt und damit trotz CBS-Beteiligung schlimme Befürchtungen weckt. Ritualkiller und Mystery sind schließlich Genres, die made in Germany schon unabhängig voneinander oft unfreiwillig komisch werden. Als Kombilösung allerdings droht „Oderbruch“ eine Effekthascherei, die deutsche Krimirätsel am Waldrand notorisch in selbstverliebtes Dunkel taucht.

„Dark“ lässt doppelt düster grüßen, wird aber vom „Pass“ zurück gewunken. Assistiert vom Co-Creator Adolfo J. Kolmerer ist Headautor Arend Remmers nämlich etwas gelungen, das beide gemeinsam mit gemeinsam mit dem erfahrenen „Tatort“-Regisseur Christian Alvart bereits im Pandemie-Epos „Sløborn“ geübt haben und nun dank eines außergewöhnlich cleveren Drehbuchs zur Vollendung bringen: Suspense ohne Theaterdonner statt umgekehrt wie die Gruselkomödie „Schnee“ zuletzt an gleicher Stelle.

So verwegen sich die Erzählung Episode für Episode, Szene für Szene, Minute für Minute mehr verkapselt, so nüchtern weist ihr schauspielerisches Personal Wege aus dem Wirrwarr ins Licht schlüssiger Dramaturgie. Allen voran Felix Kramer, dessen grüblerischer Stoizismus scheinbar direkt vom Wartehäuschen der Brandenburger Milieustudie „Warten auf’n Bus“ ostwärts gefahren ist.

Wenn sich sein Roland Voit überall als „Ortskundiger“ vorstellt, der für die angereiste Stadt-Kripo Kontakt zur Landbevölkerung herstellt, ansonsten aber eher beobachtet als interveniert, würde er vermutlich jedes andere Ensemble an die Wand spielen. Über den Hauptdarsteller hinaus hat Suse Marquardt um Serienstar Lucas Gregorowicz als Warschauer Anzug-Cop jedoch einen Cast zusammengestellt, der die abgedrehte Story knöcheltief in ostdeutscher Erde grundiert.

Roland Voits verbitterter Vater Justus (Robert Glatzeder) zum Beispiel oder Karoline Schuchs zurückgekehrter Landflüchtling Maggie, der gehbehindert Dorf-Außenseiter Demko (Jan Krauter) und jeweils von allen mindestens eine Jungversion, die mit ihren Alter Egos gelegentlich sogar gemeinsam durchs Set laufen – sie alle vervollkommnen ein Serienpersonal, das die Disposition vergrabener, verborgener, verleugneter Erinnerungen einer Region, in der einst irgendwas Unerklärliches vor sich ging, durchweg plausibel macht.

Trotz genre- wie ortstypischer Wendeverlierer (André Hennicke), Ermittlungsdominas (Katja Bürkle) und Waldschrate (Volkmar Kleinert) wirkt niemand übertrieben, overdressed, auf Understatement gebürstet. Natürlich kriecht Christian Hucks Kamera schon mal ein wenig zu wirkungsbewusst durch, über, in dunkeldeutsche Wälder. Aber wie sie Leuten auf den Pelz rückt, ohne ihr Fell zu berühren, wie sie Nähe zulassen und dabei Distanz bewahren darf, wie sie förmlich mit den Figuren kommuniziert – das hat etwas von der visuellen Wucht Christian Petzolds, Aelrun Goettes, Dominik Grafs.

Selbst ein Duo zufällig verpartnerter Cops zweier Nationen darf in dieser Atmosphäre freundlich miteinander umgehen, ohne die Stadt-Land-Fluss-Diskrepanz chronisch zu thematisieren. Und mitverantwortlich dafür ist ausgerechnet ein Gewerk, das im hiesigen Mysteryfach verlässlich für Zahnfleischbluten sorgt: die Musik. Natürlich (sie vertonen deutsche Fiktion!) kippen Roman Fleischer, Tim Schwerdter, Christoph Schauer und Max Filges gelegentlich zu viel Sound in die karge Landschaft.

Aber er ist kein ständiges Betteln um Publikumsgefühle. Eher ein löchriger, bisweilen zerrissener Geräuschteppich, als würde das Oderbruch reden, wispern, brüllen, knirschen, zischen und dabei zittrige Cellos oder Geigen durch Herzen und Hirne hetzen. Dass polnische Dialoge dabei durchweg untertitelt, statt übersetzt werden, komplettiert den herausragenden Tonfall einer Serie, die auch deshalb ständig das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hat.

Was es dabei mit all dem Kunstblut auf sich hat, wird hier nicht verraten oder auch nur angedeutet. So viel aber vorweg: Es sprengt so manche Vorstellungskraft, nur eben öfter zum Positiven als Negativen (was auch mal vorkommt). Oder wie Maggie es in einem der vielen klugen Drehbuchsätze zu ihrem Ex-Lover Voit sagt: „Ich hoffe du suchst nicht, was du hier findest.“

Alle acht Folgen von "Oderbruch" stehen ab dem 19. Januar in der ARD-Mediathek. Das Erste zeigt jeweils 4 Folgen am 19. und 26. Januar ab 22:20 Uhr.