In diesen „Tatort“ nimmt man am besten einen Kompass mit. Damit man immer weiß, wo man ist, wenn wieder mal unklar ist, auf welcher Ebene was geschieht. Das startet schon beim traditionellen „Tatort“-Vorspann. Die laufenden Beine im besoffenen Fadenkreuz haben gerade Fahrt aufgenommen, da werden sie abgeschaltet. Von einem leibhaftigen „Tatort“-Kommissar. Noch mal zum Mitschreiben: Der „Tatort“-Kommissar schaltet den „Tatort“ schon nach dem Vorspann ab. Darauf muss man erst mal kommen.

Aber es ist natürlich keiner von der normalen Kommissar-Sorte. Es ist Felix Murot, LKA-Mann aus Wiesbaden, der mit dem Tumor im Kopf. Das heißt, das mit dem Tumor im Kopf stimmt nicht mehr, denn in der Folgeszene öffnet Murot einen Brief. Der verkündet ihm, dass er von der Rehaklinik in Fulda als geheilt entlassen wird und zurück darf an seinen Wiesbadener Schreibtisch. Das muss gefeiert werden, beschließt Murot und ruft seine Assistentin Magda Wächter herbei. „Kommen Sie morgen nach Fulda. Grandhotel. Wir feiern“, jubelt er, und dann sitzen sie am nächsten Tag im Zirkus in Fulda, und natürlich muss Murot in die Manege. Während sich ein Bauchredner über ihn lustig macht, steht eine Frau auf und zeigt auf einen anderen Mann. „Das ist er. Lasst ihn nicht entkommen“, ruft sie. Plötzlich Blackout. Alles dunkel. Danach ist die Frau verschwunden, und Murot verschiebt seine Rückreise nach Wiesbaden. Er heuert als Pianist beim Zirkus an.

Es ist der dritte Fall für Ulrich Tukur, und es ist sein bester, sein versponnenster, sein poetischster. Justus von Dohnanyi hat das Buch geschrieben und Regie geführt. Wüsste man das nicht, nähme man an, Tukur selbst hätte Hand angelegt. Dieser „Tatort“ ist 100 Prozent Tukur und nur noch knapp über der Nachweisgrenze ein „Tatort“.

Zwar erfüllt der Film noch die Kriterien der Regionalität („Kommen Sie nach Fulda, hier gibt’s ne Menge zu sehen.“), und auch die am Schluss einbrechende Prise politischer Realität kennt man, aber der Großteil spielt halt im Zirkus, oder besser gesagt im Tukurschen Panoptikum. Tukur singt natürlich, und die Zirkusmusiker, die ihn dabei begleiten sind im wahren Leben seine Rhythmus Boys. Nähme man es sehr locker, könnte man fast meinen, dieser 90-Minüter sei nichts weiter als die Verfilmung von Tukurs zauberhafter Liederwelt im pergamentdünnen Gewand eines Krimis. Wie gesagt, die Ebenen verschwimmen mehrfach.

Seit Manfred Krug und Charles Brauer hat auf jeden Fall niemand mehr so schön im „Tatort“ gesungen, und wahrscheinlich ging es noch nie derart surreal zu wie in diesem fein komponierten Zirkus-Kosmos. Dazu passt Tukurs Spiel mit Murots alter Krankheit. Früher hat er immer gegen seinen Tumor angespielt. Jetzt spielt er gegen die Ansicht der anderen an, die nicht glauben wollen, dass der Tumor weg ist. Er spielt auch gegen sich selbst an, der immer wieder mal Wahnbildern aufzusitzen meint. Er glaubt seinem Körper nicht, dass der Tumor weg ist.

Auf jeden Fall denkt die örtliche Kommissarin, dass Murot spinnt, und so kann dieser sich frei bewegen und sich quasi als hessische Ausgabe von Miss Marple durch den Fall wühlen

Andauernd sondert er zudem Sätze von großer Spannweite ab. „Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass nichts einen Sinn ergibt“, sagt er kurz vor dem Ende seiner Soloshow, und dann schaltet er zum Finale den Fernseher ein. Zu sehen ist der Abspann des „Tatorts“. Auf keinen Fall sollten die Zuschauer diesem Verhalten folgen, denn dieser „Tatort“ ist der wahrscheinlich beste des zweiten Halbjahres. Unbedingt anschauen!