Dass es bei Kommissar Borowski in Kiel immer ein wenig skurril zugeht, kann man seit nunmehr zehn Jahren wissen. Dass es aber immer noch ein wenig skurriler geht, beweist die „Tatort“-Folge zum kleinen Jubiläum. In „Borowski und der Engel“ verabschieden sich die Macher beinahe völlig von jeder Form der direkten Plausibilität und schaffen gerade dadurch ein Meisterwerk der Sonderklasse.
Es geht um eine Altenpflegerin mit schwankenden Gemütszuständen. Im einen Moment ist sie die fürsorgliche Schwester, im nächsten wirkt sie wie eine kalte, extravagante Dame aus höheren Gesellschaftsschichten. Gerade ist ihr ein lieber Patient gestorben, da schmeißt sie sich in einen leichten Fummel und spaziert mit der Katze des Verblichenen durch die Straßen, bis sie an einer Kreuzung zu stehen kommt. Dort kauft gerade ein geachteter Pianist auf dem Weg zum Weltruhm Blumen, und eine desorientierte Maklerin mit hohen Schulden und einer Pistole im Handschuhfach schickt sich an, just an diesem Blumenladen vorbeizufahren. In dem Moment lässt die Altenpflegerin die Katze aus ihrer Tasche schlüpfen, direkt vor das Auto, woraufhin die Maklerin das Steuer verreißt und mit ihrem Wagen in den Blumenladen rast, dem Leben des Pianisten ein jähes Ende setzend. Hinterher behauptet die Altenpflegerin, die sich als Ersthelferin bewährt, noch, der sterbende Musiker habe ihr mit letztem Atem etwas zugeflüstert. „Sie will mich töten“, habe er gesagt und die Maklerin gemeint.
Das ist nur der Anfang, und wer die Konstellation schon verwirrend findet, der wird hernach erst recht in Schwierigkeiten geraten, denn die Pflegerin lügt weiter. Sie wird gefeiert als Heldin, die bei einem Unfall das Richtige tat. Sie gibt sich auch als Geliebte des Pianisten aus, um dessen schwerreiche Eltern für sich einzunehmen. Sie türmt eine Lüge auf die andere, und mit jeder Szene wird es abstruser.
Borowski steht dem ganzen erst einmal etwas hilflos gegenüber. Ihn befällt seine übliche Skepsis gegenüber allzu einfachen Erklärungen, aber dann verrennt er sich und muss noch einmal von vorne anfangen. Am Ende wird er eine Lösung finden, aber sie wird meilenweit von der Realität entfernt liegen und doch so etwas wie Gerechtigkeit herstellen.
Es geht um die große Frage, welche Wahrheit in der Lüge liegt, darum, was passiert, wenn das Falsche wahrer klingt als das Richtige. Was geschieht, wenn eine Person steif und fest etwas behauptet, das nicht stimmt, aber die Umstände lassen ihre Version plausibler klingen als andere? Deutlich hat sich Autor Sascha Arango hier inspirieren lassen von dem Fall einer Lehrerin, die einen Kollegen der Vergewaltigung bezichtigte, woraufhin dieser ins Gefängnis wanderte. Sehr zu Unrecht, wie sich allerdings erst nach Verbüßung seiner Strafe herausstellte.
Axel Milberg ist eine verlässliche Größe als Borowski. Sein „Ich höre“, wenn er ein Gespräch annimmt, ist mittlerweile ein Markenzeichen für das Lapidare in der Figur, die einen ganz besonderen Swing mit sich bringt. Borowski der Lebemann, dieses Bild soll auch gezeichnet werden neben dem akribischen Detailnotierer, der in einer wilden Verkettung von Unwahrscheinlichkeiten jenes Glied sucht, das nicht dazu gehört.
Doch der Fall wäre nicht ein so besonderer, würde nicht Lavinia Wilson die so perfekt lügende Altenpflegerin mit solch einer ungeheuren Natürlichkeit ausstatten, dass beinahe jede ihrer Aussagen nach großer Gewissheit klingt. Zwischendrin schwebt sie beinahe über dem Geschehen, einem Engel gleich. Aber das Spiel von Milberg und Wilson, das in einem grandiosen, wortgewaltigen Finale mündet, wäre sicherlich nicht dasselbe, hätte nicht Regisseur Andreas Kleinert großen Wert gelegt auf die Gesamtkomposition. In die fügt sich hier all das offensichtlich Verwirrende, fügen sich die Lügen und die Hirngespinste, so dass alles irgendwann irgendwie logisch klingt und nicht mehr klar wird, was nun ist und was nur sein soll.
Kleinerts große Kunst ist es, den Zuschauer immer dann aufzufangen mit Szenen von großem Humor, bevor man aufgrund der vielfältigen Informationen selbst zum Borderliner zu werden droht. Dabei gibt es auch eine schier grandiose Szene mit einem Polizisten, der beiläufig mit einer sichergestellten Waffe hantiert und sich aus Versehen in den Fuß schießt. Das ist zum Wegwerfen komisch, ein echter Brüller, eine Szene für die sich dieser „Tatort“ allein schon lohnt. Aber dann ist da noch das große Spiel mit der Wahrheit, sind da die bezaubernden, mit großer Sorgfalt komponierten Bilder, ist da ein grandioser Milberg, ist da eine bezaubernde Täterin, ist da so viel, dass es noch drei anderen „Tatort“-Episoden zur Ehre gereichen könnte. Aber hier gibt es alles auf einmal. Ein ganz großer Jahresabschluss.
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