Vor einem Jahr war die Woche, in der ich das letzte Mal ein Konzert besucht und die Reise nach Prag abgesagt habe, kurz bevor Tschechien seine Grenze schloss. Die Regale im Supermarkt wurden leerer, die Bedenken größer und ich musste meiner Mutter erklären, dass jetzt keine gute Zeit sei, den Geburtstag mit Bekannten nachzufeiern. Kurz danach hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die gerade von der WHO zur Pandemie erklärte Ausbreitung des Coronavirus in ihrer Fernsehansprache als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Und Deutschland ging in einen Lockdown, den sich wenige Wochen zuvor kaum jemand hätte vorstellen können.

Da hatten wir ihn, den Schlamassel.

Zwei Wochen später begrüßte SWR-Chefredakteur Fritz Frey die Zuschauerinnen und Zuschauer in einem "ARD Extra", "das sich unter anderem mit der Frage befasst, ob uns solche Masken helfen, wenn wir sie beispielsweise beim Einkaufen tragen".

ARD Extra vom 31. März 2020 © Screenshot Das Erste Fritz Frey zeigt dem "ARD Extra"-Publikum Ende März 2020, wie ihre neue Normalität bald aussehen wird.

Die Antwort ist inzwischen weithin bekannt, und Maskentragen in der zur Normalität gewordenen Ausnahmesituation bei den allermeisten Menschen eine (lästige, aber notwendige) Selbstverständlichkeit geworden – auch im Fernsehen. Politikerinnen und Politiker tragen, wenn sie in den Nachrichten zum Redepult gehen, Mund-Nasen-Schutz. Die für Spezialsendungen auf Bahnsteigen und in Fußgängerzonen befragten Leute auch. Und in TV-Shows haben wir uns nicht nur an leer bleibende Publikumsränge und Applaus vom Band gewöhnt, sondern auch daran, dass von Zeit zu Zeit Bühnenarbeiter, Maskenbilderinnen und Kameraleute durchs Bild huschen, deren Gesichter hinter blauen Papierlappen und weißen Falttüten weitgehend unsichtbar bleiben. Wie überall sonst halt – und mit einer auffälligen Ausnahme.

Als sei nichts Weltbewegendes passiert

Während Corona auch die Produktionsbedingungen für Filme und Serien massiv verändert hat, an Sets regelmäßig getestet wird, Maskenpflicht in Pausen herrscht und Szenen umgeschrieben werden, um Menschenansammlungen zu vermeiden, sieht es vor der Kamera in vielen Fällen aus als sei in den vergangenen Monaten nichts Weltbewegendes passiert. Maskentragende Protagonistinnen und Protagonisten? Lieber nicht.

Das hat mehrere Gründe, und viele davon sind nachvollziehbar. Da ist zuallererst die Furcht, ein Publikum zu vergraulen, das sich zum Beispiel mit Soaps und Telenovelas vom Alltag ablenken will, anstatt permanent an die eigene Realität erinnert zu werden. Es gibt auch die Sorge, Erzählungen könnten zwischen Dreh und Ausstrahlung von der sich rasend schnell verändernden Realität eingeholt werden. Oder ganz praktische Bedenken: Hinter Masken lässt sich naturgemäß sehr viel schlechter schauspielern. Nicht zuletzt werden vor allem Serien in der Erwartung gedreht, möglichst oft wiederholt zu werden – was mit vollmaskiertem Cast in Zukunft komisch wirken könnte. Einerseits.

Andererseits ist es halt genauso komisch, als Zuschauerin bzw. Zuschauer nicht nur bei älteren Filmen und Serien ständig das Gefühl zu haben: Die stehen viel zu eng beieinander! Wie können die sich jetzt umarmen? Und hört endlich auf, euch die Hand zu geben! Sondern auch bei allem, was neu dazu kommt.

Einladung zur Aerosolverteilung

Ende des vergangenen Jahres feierte bei TVNow die Miniserie "Unter Freunden stirbt man nicht" Premiere. Darin versucht eine Clique im fortgeschrittenen Alter das unerwartete Ableben ihres Freundes zu verheimlichen, um ihm noch den Nobelpreis zusprechen zu lassen. Iris Berben, Adele Neuhauser, Heiner Lauterbach und Michael Wittenborn latschten sich unmaskiert gegenseitig durch ihre Wohnungen, trafen sich bedenkenlos in Besprechungsräumen, pfiffen in der Begegnung mit Nebencharakteren auf jeglichen Abstand und verteilten anschließend auch noch ihre Aerosole in der örtlichen Polizeistation, um die Geschichte fürs Protokoll festzuhalten.

Unter Freunden stirbt man nicht © TVNOW / Frank Dicks So eng kommen wir nicnht mehr zusammen: In "Unter Freunden stirbt man nicht" kennen die Charaktere keine Pandemie.

Das war schon im Dezember, als Deutschland in den zweiten Lockdown ging, eine seltsame Seherfahrung, Wenn die Reihe in dieser und der darauffolgenden Woche nun erstmals im Free TV bei Vox zu sehen sein wird, ist es noch kurioser: eine Geschichte, die sichtbar im Hier und Jetzt angelegt ist – aber fast schon krampfhaft versucht, den Elefanten im (gänzlich unbelüfteten) Raum zu ignorieren.

Damit ist die Miniserie nicht allein. Bereits im Sommer des vergangenen Jahres hat dpa bei deutschen TV-Produktionsfirmen angefragt, wie sie in ihren Filmen und Serien mit der Pandemie umgehen wollen, und die Antwort lautete in den allermeisten Fällen: gar nicht. Eine Ufa-Sprecherin erklärte für "GZSZ" und "Unter uns": "Inhaltlich thematisieren wir Corona aktuell nicht." Der BR ließ ausrichten, man wolle dem "Dahoam is dahoam"-Publikum "eine halbe Stunde Auszeit vom Thema" gönnen. Am besten gefiel mir die Auskunft der Bavaria, die für "Rosenheim Cops" und "Sturm der Liebe" feststellte: "Eine Pandemie passt inhaltlich nicht zur Ausrichtung der beiden Serien."

Der Alltag, den es nicht geben darf

Und das mag ja stimmen. (Auch wenn ich festhalten möchte, dass eine Pandemie inhaltlich jetzt auch nicht unbedingt zu meinen Plänen für die vergangenen zwölf Monate gepasst hat.) Wie einfach es sich fast eine ganze Branche mit diesem Entschluss gemacht hat, ist dann aber doch bemerkenswert.

Denn dass das deutsche Fernsehen so tut, als würde es unseren neuen Alltag nicht geben, lässt es nicht nur unecht und künstlich wirken. Es demonstriert auch, wie sehr die Verantwortlichen nach wie vor die Anpassungsfähigkeit ihres Publikums zu unterschätzen bereit sind. Und spiegelt letztlich ein zentrales Problem deutscher Fiktion, die zwar stets bereit ist, in einer Tour die allergrößten Dramen, wildesten Morde und die allerunwahrscheinlichsten Bergrettungen heraufzubeschwören, um ihren Spannungsbogen zu finden. Die sich aber augenblicklich geschlagen gibt, wenn es darum geht, einen passenden Umgang mit tatsächlich passierenden Unwahrscheinlichkeiten zu finden.

Das soll nicht als Plädoyer missverstanden werden, nun aus jeder Produktion eine Corona-Geschichte herauszupressen. Aber dafür, Serie für Serie und Film für Film einen zur jeweiligen Tonalität passenden Umgang mit der Pandemie zu finden.

Leerstelle in der deutschen Fiktion

Die "New York Times" hat vor kurzem einen lesenswerten Text dazu publiziert, wie sich die Showrunner amerikanischer Serien genau dieselben Fragen gestellt haben: ignore reality or exhaust your viewers? Reflect or distract? Die Antworten fielen erstaunlich vielfältig aus. Manche Produktionen haben die Pandemie gänzlich umschifft, andere in Doppelfolgen thematisiert, um sich danach per Zeitsprung in die Zukunft zu retten; wieder andere sind voll in die Thematik eingestiegen.

"Grey's Anatomy" erzählt – nach anfänglichem Zögern der Beteiligten – eine komplette Staffel davon, wie die Welt im Grey Sloan Memorial Hospital von Corona aus den Angeln gehoben wird und auch Hauptcharaktere sich mit dem Virus infizieren. Das (unterschätzte) Apple-TV-Original "The Morning Show" war bereits in die Dreharbeiten zur zweiten Staffel gestartet, als die Auswirkungen von COVID-19 die Produktion über Monate lahmlegten – was das Team um Regisseurin Mimi Leder zur Einsicht brachte, die Folgen komplett umzuschreiben: "[T]he writing will reflect the world we're living in."

Abgesehen davon, dass das natürlich auch eine Kostenfrage ist, scheinen deutsche Sender und Produktionsfirmen davor große Angst zu haben. Leider definiert genau das eine der großen Leerstellen, die fiktionale Erzählungen hierzulande immer noch haben. So ambitioniert viele Projekte inzwischen auch sein mögen: Im Zweifel siegt der Eskapismus.

Sicher, das ZDF dreht gerade einen Film, in dem Natalie Wörner eine Ärztin spielt, die sich während der Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten selbst mit Corona ansteckt: "Die Welt steht still". Aber natürlich kann und soll das nicht die Regel sein. Zu überlegen, ob man dem Publikum etwas mehr Alltagsreflektion zumuten kann, ohne das Virus immer gleich zum Hauptdarsteller zu machen, aber schon.

Die Pandemie im Hintergrund

Wie das gehen könnte, hat das Erste Ende des vergangenen Jahres mit dem Fernsehfilm "Für immer Sommer 90" ausprobiert, der für den diesjährigen Grimme Preis nominiert ist und in der ARD Mediathek als Miniserie lief (bzw. jetzt wiederholungsbedingt wieder als Film.)

Charly Hübner spielt den erfolgreichen Banker Andy, der von einer anonym bleibenden Person aus seiner Vergangenheit der Vergewaltigung bezichtigt wird, was seine Karriere durcheinander zu bringen droht – und ihn seinen Freundeskreis aus der Wendezeit aufsuchen lässt, um herauszufinden, was hinter der Anschuldigung steckt. Es geht nicht in allererster Linie um Corona, aber im Hintergrund ist die Pandemie ständig präsent: in Dialogen, Gesprächen, Gesten.

Für immer Sommer 90 © ARD Degeto/Manju Sawhney Geschäftsessen mit Maske auf dem Tisch: TV-Film "Für immer Sommer 90" im Ersten.

Der Film beginnt mit der Einblendung "Frankfurt am Main, Juni 2020" – und damit ist die Situation aus Publikumssicht völlig klar. Andys Geschäftspartner kommt umkommentiert mit Maske zum Essen ins Restaurant; seine Mutter grüßt ihn per Ellbogen mit dem Kommentar "Ich hab keinen Bock auf diesen Virus", bevor er sie doch an sich drückt; auf seiner Fahrt durch Deutschland wird Andy ohne Mund-Nasen-Bedeckung nicht in die Raststätte gelassen; auf dem Parkplatz unterhält er sich mit einem Schlachthofarbeiter, der in Quarantäne musste; die Praxis, in der eine alte Freundin arbeitet, hat am Empfang eine große Trennwand aus Plexiglas aufgestellt und man desinfiziert sich die Hände; der frühere Schulfreund ist zum Corona-Leugner geworden ("Das können die mir doch nicht erzählen, ich weiß, was läuft") – und mitten im Film kommt raus, dass Andys letzter großer Deal das Investment in ein Unternehmen namens BioNTech war – kurz bevor Corona zum Thema wurde und sich seine Bank den guten Riecher hat vergolden lassen.

Begleiterscheinung eines Sommers

Der ganze Film ist – unabhängig von seiner Hauptgeschichte – ein Abbild der Begleiterscheinungen des vergangenen Sommers, und als Zuschauer fühle ich mich dabei vor allem: ernstgenommen. Auch wenn es kurios ist, dass ausgerechnet der Film, in dem der Hauptprotagonist zu den Wurzeln seiner Vergangenheit reist, ein ausgeprägtes Gegenwartsbewusstsein hat, wie es bislang im deutschen Fernsehen eher die Ausnahme bleibt.

Als der amerikanische Blogger Mark Manson vor einigen Monaten seine Leserinnen und Leser fragte, welcher Erkenntnisse sie aus dem vergangenen Jahr für sich mitgenommen haben, lautete eine der Antworten: "After a few months, what feels alien is the way things used to be. Watching some TV show where people don't wear masks now dates the show just like gym pants or shoulder pads do. 'New normal' is a very overused term, but I think it conveys well the speed at which something odd becomes the only non-odd thing.”

Das, was komisch war, ist jetzt normal. Und was bisher normal schien, sieht plötzlich komisch aus. Wir wissen alle, wie nervig es ist, sich daran zu gewöhnen. Aber es wird allerhöchste Zeit, dass sich endlich auch das Fernsehen dieser Herausforderung stellt.

Und damit zurück nach Köln.

Wenn Sie einen deutschen Film oder eine deutsche Serie gesehen haben, in der Protagonistinnen bzw. Protagonisten Maske tragen, freu ich mich über einen Hinweis per E-Mail oder Direktnachricht. Danke!

"Unter Freunden stirbt man nicht" läuft diesen und nächsten Mittwoch um 20.15 Uhr in Doppelfolgen bei Vox.