Manche Themen wirken auf Anhieb so surreal, dass man sie einfach weglacht. Vergangene Woche war das so, als wir zum ersten Mal von der Idee hörten, es gebe Gedanken, die „Tagesschau“ um 20 Uhr auf 30 Minuten zu verlängern. Es wäre eine Revolution, nicht nur in der ARD sondern für den gesamten Fernsehmarkt. Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich und der Schweiz. Noch dazu mit zweifelhaften journalistischem Mehrwert. Doch all das war kein Gag, sondern real. Die Kollegen von „Medieninsider“ berichteten am Mittwoch zuerst über das Thema, später auch „Digitalfernsehen“.

Die jetzt öffentlich gewordene Idee ist nicht ganz neu, wurde nach DWDL-Informationen von Strobl schon im vergangenen Jahr in der Runde der Intendantinnen und Intendanten der ARD eingebracht. Die Begeisterung blieb damals schon aus, auch weil die Änderung im Ersten in mehrerlei Hinsicht Auswirkungen auf die Landesrundfunkanstalten der ARD hätte. Weniger auf den SR, Radio Bremen und MDR, weil die ersten beiden kein eigenes Drittes Fernsehprogramm betreiben und der MDR die 20 Uhr-„Tagesschau“ nicht übernimmt.
Die "Tagesschau", Taktgeber über Deutschland hinaus
Vom WDR aus Köln kam nach DWDL-Informationen hingegen Protest. Im Zweifel werde man dann um 20:15 Uhr die Programmübernahme des Ersten beenden und mitten aus der Sendung aussteigen. Wobei eine verlängerte „Tagesschau“ nicht nur die ARD-Anstalten sondern die gesamte deutsche Fernsehbranche und darüber hinaus auch alle Sender in Österreich und der Schweiz vor die Frage stellt, ob man dem Taktgeber „Tagesschau“ folgt und die Primetime auf 20:30 Uhr schiebt.

Von einer „kurzsichtigen Machtdemonstration“, die ohne Not zu einer Unzeit des medienpolitischen Diskurses kommt, spricht am Mittwoch ein führender Kopf im ARD-Kosmos, der nicht genannt werden will. Strobl hingegen sieht es laut Aussagen Dritter als gezielte Stärkung der Informationskompetenz, könnte dafür deshalb auch erst einmal (unüberlegten) Applaus der Medienpolitik erhalten. Schließlich klingt der Plan vordergründig ehrbar, hat nur trotzdem kaum Freunde. Auch weil sich in der ARD Einige um das Alleinstellungsmerkmal der Marke "Tagesschau", die Kompaktheit, sorgen.
Es gibt drei mögliche Szenarien
Drei Szenarien gibt es nach DWDL-Informationen bei Strobls Plan, wobei alle Varianten einen früheren Beginn der „Tagesschau“ ausschließen, weil ARD Media nur bis 20 Uhr Werbung verkaufen darf und sich verbitten würde, das nicht auch weiterhin ausnutzen zu können. Wie also sehen die Szenarien aus? Eins davon würde aus ARD-internen Gründen scheitern, bei zwei anderen wird es noch komplexer. Da wäre also zunächst die Überlegung, die „Tagesschau“ um 20 Uhr nur in Ausnahmesituationen ausnahmsweise zu verlängern, wie in der Corona-Pandemie schon passiert.

Denkbar ist aber auch, dass die 30-minütige „Tagesschau“ um 20 Uhr nur montags laufen soll, um den über die Jahre immer und immer wieder zum Info-Montag ausgerufenen Abend zu stärken, wo man ein bisschen Sendezeit zu füllen hätte nachdem weniger „Hart aber Fair“ fürs Lineare bestellt wurde. Sendezeit als Gemengelage. Doch das wäre bereits eine Revolution, die die ARD nicht im Alleingang beschließen könnte. Aus zwei Gründen: Einmal, weil man mit dem ZDF gemeinsam Sender wie Phoenix oder 3sat betreibt, die von einem solchen Eingriff ebenfalls betroffen wären.
Nicht nur das ZDF ist kalt erwischt von der Idee

Einer bezog allerdings schon Stellung. Während die ARD-Programmdirektion sich zurückhält, preschte WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn vor. In einem geplanten Gespräch mit dem Deutschlandfunk wurde er kurzerhand auch zu diesem Thema befragt und bestätigte dabei die Überlegungen im Grundsatz: „Es ist eine Idee, die unsere Nachrichtenprogramme für den Alltag stärker öffnet. Es gibt Pflichtthemen, wenn in der Ukraine was passiert, wenn in Berlin im Bundestag etwas passiert. Aber zur Wirklichkeit des Alltags gehört ja auch, was ich in der Pflege erlebe, was ich in der Bahn erlebe.“

Das radikalste Szenario von Strobls Idee wäre eine grundsätzliche Verlängerung der „Tagesschau“ um 20 Uhr an allen Tagen auf dreißig Minuten. Also die ultimative Machtdemonstration der ARD, die alle Marktteilnehmer - egal ob privat oder öffentlich-rechtlich - zu einer unmittelbaren Reaktion zwingen würde. Und das in Deutschland, aber auch Österreich und der Schweiz. Ein kaum vorstellbarer Vorgang angesichts der enormen Tragweite der Entscheidung. Allerdings ist der Zeitpunkt gerade auch kein Zufall: Strobls Vertrag für die Programmdirektion des Ersten läuft in einigen Monaten aus. Vom Ausgang dieses Pokerspiels - wenn man es denn weiterverfolgt - dürfte abhängen, ob Strobl sich mit einer Revolution ein Denkmal setzt - oder den Weg frei macht.