Manche Themen wirken auf Anhieb so surreal, dass man sie einfach weglacht. Vergangene Woche war das so, als wir zum ersten Mal von der Idee hörten, es gebe Gedanken, die „Tagesschau“ um 20 Uhr auf 30 Minuten zu verlängern. Es wäre eine Revolution, nicht nur in der ARD sondern für den gesamten Fernsehmarkt. Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich und der Schweiz. Noch dazu mit zweifelhaften journalistischem Mehrwert. Doch all das war kein Gag, sondern real. Die Kollegen von „Medieninsider“ berichteten am Mittwoch zuerst über das Thema, später auch „Digitalfernsehen“

Christine Strobl © ARD/Laurence Chaperon
Inzwischen kann auch DWDL bestätigen: Diese Woche wurden bei ARD Aktuell in Hamburg testweise „Tagesschau“-Sendungen von 30 Minuten Länge für 20 Uhr produziert. Kommt sie also, die große Revolution? Das ist zweifelhaft. Klar aber ist inzwischen, woher die Idee kommt: Aus der Programmdirektion des Ersten in München, von Christine Strobl. Auf Anfrage heißt es von dort am Mittwoch offiziell nur: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns zu programmstrategischen Überlegungen sowie redaktionellen Planungen und internen Abstimmungsprozessen grundsätzlich nicht öffentlich äußern.“

Die jetzt öffentlich gewordene Idee ist nicht ganz neu, wurde nach DWDL-Informationen von Strobl schon im vergangenen Jahr in der Runde der Intendantinnen und Intendanten der ARD eingebracht. Die Begeisterung blieb damals schon aus, auch weil die Änderung im Ersten in mehrerlei Hinsicht Auswirkungen auf die Landesrundfunkanstalten der ARD hätte. Weniger auf den SR, Radio Bremen und MDR, weil die ersten beiden kein eigenes Drittes Fernsehprogramm betreiben und der MDR die 20 Uhr-„Tagesschau“ nicht übernimmt. 

Die "Tagesschau", Taktgeber über Deutschland hinaus

Vom WDR aus Köln kam nach DWDL-Informationen hingegen Protest. Im Zweifel werde man dann um 20:15 Uhr die Programmübernahme des Ersten beenden und mitten aus der Sendung aussteigen. Wobei eine verlängerte „Tagesschau“ nicht nur die ARD-Anstalten sondern die gesamte deutsche Fernsehbranche und darüber hinaus auch alle Sender in Österreich und der Schweiz vor die Frage stellt, ob man dem Taktgeber „Tagesschau“ folgt und die Primetime auf 20:30 Uhr schiebt.

ARD © ARD
Schließlich ist die kompakte Hauptnachrichtensendung der ARD seit Jahrzehnten dafür verantwortlich, dass sich im deutschsprachigen Raum die Uhrzeit 20:15 Uhr als Primetime-Beginn über alle Sender hinweg durchgesetzt hat - und wie aussichtslos es ist, gegen die „Tagesschau“ zu starten, hat Sat.1 in den 90er Jahren in einem Praxistest selbst erfahren als das Projekt „Volle Stunde, volles Programm“ kläglich scheiterte.

Von einer „kurzsichtigen Machtdemonstration“, die ohne Not zu einer Unzeit des medienpolitischen Diskurses kommt, spricht am Mittwoch ein führender Kopf im ARD-Kosmos, der nicht genannt werden will. Strobl hingegen sieht es laut Aussagen Dritter als gezielte Stärkung der Informationskompetenz, könnte dafür deshalb auch erst einmal (unüberlegten) Applaus der Medienpolitik erhalten. Schließlich klingt der Plan vordergründig ehrbar, hat nur trotzdem kaum Freunde. Auch weil sich in der ARD Einige um das Alleinstellungsmerkmal der Marke "Tagesschau", die Kompaktheit, sorgen.

Es gibt drei mögliche Szenarien

Drei Szenarien gibt es nach DWDL-Informationen bei Strobls Plan, wobei alle Varianten einen früheren Beginn der „Tagesschau“ ausschließen, weil ARD Media nur bis 20 Uhr Werbung verkaufen darf und sich verbitten würde, das nicht auch weiterhin ausnutzen zu können. Wie also sehen die Szenarien aus? Eins davon würde aus ARD-internen Gründen scheitern, bei zwei anderen wird es noch komplexer. Da wäre also zunächst die Überlegung, die „Tagesschau“ um 20 Uhr nur in Ausnahmesituationen ausnahmsweise zu verlängern, wie in der Corona-Pandemie schon passiert.

Brennpunkt © ARD
Statt wie bisher üblich auf einen „Brennpunkt“ zu wechseln oder ein „ARD Extra“ zu erfinden, also die einmal eingeschaltete Sendung zu verlängern. Doch wenn bei besonderen Nachrichtenlagen die „Tagesschau“ verlängert wird, braucht es keine „Brennpunkte“ mehr. Und das ist ARD-intern der Knackpunkt: Diese Sondersendungen werden von verschiedenen ARD-Anstalten verantwortet, je nach Thema. 30 Minuten „Tagesschau“ bei besonderen Nachrichtenlagen würden kaum noch Raum lassen für „Brennpunkte“ - und die Sichtbarkeit der ARD-Anstalten.

Denkbar ist aber auch, dass die 30-minütige „Tagesschau“ um 20 Uhr nur montags laufen soll, um den über die Jahre immer und immer wieder zum Info-Montag ausgerufenen Abend zu stärken, wo man ein bisschen Sendezeit zu füllen hätte nachdem weniger „Hart aber Fair“ fürs Lineare bestellt wurde. Sendezeit als Gemengelage. Doch das wäre bereits eine Revolution, die die ARD nicht im Alleingang beschließen könnte. Aus zwei Gründen: Einmal, weil man mit dem ZDF gemeinsam Sender wie Phoenix oder 3sat betreibt, die von einem solchen Eingriff ebenfalls betroffen wären.

Nicht nur das ZDF ist kalt erwischt von der Idee

ZDF-Logo in Mainz © ZDF/Ralph Orlowski
Und weil Paragraph 3 des ARD-Staatsvertrags im Wege steht. Dort heißt es unter der Überschrift „Abstimmung mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen“: „Vor Veränderungen des Programmschemas im Ersten Fernsehprogramm sollen die für das Erste Fernsehprogramm in der ARD Verantwortlichen auf ein Einvernehmen mit dem Intendanten des Zweiten Deutschen Fernsehens hinwirken; dabei ist auf die Nachrichtensendungen besondere Rücksicht zu nehmen.“ Und in Mainz - dort wurde man am Mittwoch blind überrascht von den Gedankenspielen der ARD. Generell mag sich kaum jemand auf Anhieb äußern. Die ersten nicht zitierfähigen Reaktionen fallen an mehreren Stellen noch zu überrascht aus.

Einer bezog allerdings schon Stellung. Während die ARD-Programmdirektion sich zurückhält, preschte WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn vor. In einem geplanten Gespräch mit dem Deutschlandfunk wurde er kurzerhand auch zu diesem Thema befragt und bestätigte dabei die Überlegungen im Grundsatz: „Es ist eine Idee, die unsere Nachrichtenprogramme für den Alltag stärker öffnet. Es gibt Pflichtthemen, wenn in der Ukraine was passiert, wenn in Berlin im Bundestag etwas passiert. Aber zur Wirklichkeit des Alltags gehört ja auch, was ich in der Pflege erlebe, was ich in der Bahn erlebe.“

Jörg Schönenborn © WDR/Annika Fußwinkel
Ob die Revolution wirklich komme? „Wir werden uns das anschauen. Der Vorteil ist, dass ich mehr Informationen bekomme, dass ich mich als Durchschnittszuschauer stärker wiederfinden kann. Der Nachteil ist, dass ich mehr Zeit investieren muss. Und diese Abwägung müssen wir treffen“, sagt Schönenborn. „Ich glaube, wir werden am Ende beides brauchen. Wir brauchen weiterhin die knappe, kompakte Information, und wir brauchen die Vertiefung.“ Damit beschreibt er relativ treffend die Unterschiede der beiden ARD-Medienmarken „Tagesschau“ und „Tagesthemen“. Eine längere „Tagesschau“, sie könnte auch ihren USP verlieren.

Das radikalste Szenario von Strobls Idee wäre eine grundsätzliche Verlängerung der „Tagesschau“ um 20 Uhr an allen Tagen auf dreißig Minuten. Also die ultimative Machtdemonstration der ARD, die alle Marktteilnehmer - egal ob privat oder öffentlich-rechtlich - zu einer unmittelbaren Reaktion zwingen würde. Und das in Deutschland, aber auch Österreich und der Schweiz. Ein kaum vorstellbarer Vorgang angesichts der enormen Tragweite der Entscheidung. Allerdings ist der Zeitpunkt gerade auch kein Zufall: Strobls Vertrag für die Programmdirektion des Ersten läuft in einigen Monaten aus. Vom Ausgang dieses Pokerspiels - wenn man es denn weiterverfolgt - dürfte abhängen, ob Strobl sich mit einer Revolution ein Denkmal setzt - oder den Weg frei macht.