Wenn ein weitestgehend kitschresistenter Kulturkanal die Bedeutung seines Standortes ausgerechnet mit den Mechanismen der vorwiegend kitschanfälligen Konkurrenz betont, dann muss was faul sein im Staate Europa. Aber gut – drei Monate vor einer kontinentalen Wahl, in der womöglich antieuropäische Populisten die Oberhand gewinnen, ist das Totschlagargument Kinder nicht die schlechteste Strategie, um sich und anderen Mut zu machen.

Also eben Babys.

Von denen nämlich, meint Arte-Programmchef Bernd – das passt doch: Mütter bei einer Pressekonferenz, auf der sein Sender jedes Jahr um diese Zeit in Hamburg das saisonale Angebot vorstellt, von denen habe das Studienprogramm Erasmus seit 1987 gut eine Million hervorgebracht. Eine Million Früchte der Liebe also, geboren aus Beziehungen junger Leute, die dank des europäischen Austauschprojekts zueinander fanden. Hach schön! Für Arte allerdings, wo nüchterne Info und sperriges Drama weit mehr zuhause sind als billige Emotionen, gar Romantik, wäre das früher fast ein bisschen zu schön gewesen.

Aber hässlichere Zeiten hat der deutsch-französische Sender seit seiner Gründung auf dem frisch entgrenzten Kontinent nie erlebt. Wobei es aus Sicht von Mütters Vorgesetztem Peter Boudgoust deshalb noch längst keine schlechten sind. Im Gegenteil. „Objektiv ist die Situation auch für uns sicher ungemütlich“, beteuert der Intendant auf DWDL.de-Anfrage, „aber sie bietet auch die Chance, dass sich Menschen mithilfe der Kultur wieder besser verstehen“. Zum Beispiel durch Dokus wie „Erasmus“, mit der Arte im Mai das Zusammenwachsen dieses einst so heillos zerstrittenen Kontinents verdeutlicht.

Mehr denn je, das zeigt die große PK im kubistischen Anbau der örtlichen Kunsthalle, wird das Gezeigte also vom eigenen Gründungsgedanken geprägt. Demokratie. Austausch. Kommunikation durch Kultur. Das prägt auch dieses Jahr bis tief in den Winter. Bereits am 4. Mai mit dem aufwändigsten Projekt, eine Art Ausweitung der Kampfzone ganztägiger Reportagen. Nach „24h Berlin“ und „24h Jerusalem“ haben 45 Teams für „24h Europe“ einen Tag im Leben von 60 Europäern bis 30 Jahre aus 26 Ländern porträtiert. Und weil „The Next Generation“, so der Untertitel, den Kontinent künftig prägt, sind die Protagonisten Banker oder Bauern, arbeitslos oder erfolgreich, Hedonisten oder Aktivisten, rechts oder links, Männer, Frauen, beides, also im Grunde alles, was auch die anderen Sachfilme des Senders prägt.

Aber Dokus über Flüchtlinge, Kunstfälscher, Klimawandel, Berichte von Trump-Fans, Putin-Begleitern, UN-Opfern, Schwerpunkte aus Afrikas Kulturszene, Amerikas Neonazi-Bewegung und immer wieder Musik, Musik, Musik – alles interessant, alles bedeutsam, alles Kernkompetenzen des Kulturerklärers schlechthin. Aber was, die Frage ist im Zeitalter rasant wachsender Streamingdienste mindestens gleichbedeutend, was ist bitte mit Serien?! „Haben wir“, meint Peter Boudgoust im DWDL.de-Gespräch und nennt vor allem „mein Lieblingsprojekt“, das im Grenzgebiet sämtlicher Themenbereiche spielt.

Peter Boudgoust© ARTE G.E.I.E./Jann Wilken
Arte-Präsident Peter Boudgoust

„Eden“ ist eine sechsteilige Nachstellung dessen, was man bei Arte nur selten Flüchtlingskrise“ nennt, aber genau die zum Thema hat. Unter der Regie des Deutschen Dominik Moll verknüpfen Darsteller aus fünf Ländern ab 2. Mai, was Migration mit Menschen macht. Allen Menschen. Egal welcher Herkunft und Sichtweise. Zu sehen in 70 Prozent aller europäischen Haushalte, die Arte mittlerweile sechssprachig nutzen können. Zum fiktionalen Repertoire 2019 gehören aber auch konventionelle Themen – wenngleich oft mit gesellschaftspolitischem Zugang. Der tschechische Achtteiler „The Lynching“ etwa handelt ab Juli vom Mord an einem Roma-Kind in Böhmen, „Nur ein Bankraub“ drei Monate zuvor von zwei Schwedinnen, die im Alter noch mal ganz den Erwerb wechseln. Zwischendurch kämpft Iris Berben in Dominik Grafs Krebsdrama „Hanne“ tapfer gegen die Sterblichkeit, bevor Ende des Jahres der 100. Bauhaus-Geburtstag zum Gegenstand einer großen Drama-Serie wird.

Ob all dies im Kampf mit den Streamingdiensten ausreicht, wird sich zeigen. Doch Peter Boudgoust beteuert, er „nehme die Herausforderung gern an“. Unter anderem dank einer „erweiterten Distributionsstrategie“. In ihr werden noch größere Programmteile als zuvor bis zu sieben Tage vor der linearen Ausstrahlung online first gezeigt. „Außerdem erstellen wir mehrere Web-Serien und bauen Arte Europe weiter aus.“ Das Budget für untertitelte Originalfassungen bleibe zwar weiter begrenzt, „aber die Entwicklung geht in diese Richtung. Auch Kooperationen mit Digitalplattformen, wie sie ARD und RTL zuletzt erfolgreich mit Sky und Amazon getestet haben, will er nicht ausschließen, „da gibt es keinerlei Denkverbote.“

Zugleich aber sei Arte „durch unsere Vernetzung im europäischen Markt schon sehr gut aufgestellt und für alle jederzeit überall erreichbar“. Mit großer Politik ebenso wie mit großem Gefühl, das zeigt die heutige Programm-PK. Für letzteres setzt ein Sender wie Arte aber natürlich eher selten auf Babys. Eher schon aufs ganz große Pathos der Oper. Arte sendet fortan Stücke 22 wichtiger Bühnen von Finnland bis Italien. Netflix nimmt man damit eher nicht so viele Kunden ab. Europa indes tut das ziemlich gut.