Fast zwei Monate ist es her, dass sich Axel Springer von "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt trennte. Jetzt hat sich Reichelt erstmals ausführlich zu Wort gemeldet - in einem bemerkenswerten Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit". Darin wird schnell klar, dass sich Reichelt selbst als Opfer sieht. "Schon das Wort 'MeToo' ist in diesem Zusammenhang eine Verleumdung", sagt der ehemaliger "Bild"-Chef. "Es gab in dem ganzen Verfahren keinen Menschen, der sich selbst als 'Opfer' bezeichnet hat, auch wenn das in den Medien so dargestellt wurde." Ihm sei zudem noch nie eine Aussage präsentiert worden, in dem ihm Machtmissbrauch unterstellt worden sei.

Reichelt: "Die Beziehung, um die es geht, wurde im Abschlussbericht von Freshfields, den Mathias Döpfner mir selber vorgelesen hat, sehr konkret thematisiert. Ich habe Mathias Döpfner da nicht angelogen. Deswegen hat es mich sehr überrascht, wie überrascht er gewesen sein will. Man hat mich unterm Strich wegen meiner Beziehung rausgeworfen. Dafür, dass ich einen Menschen liebe. So etwas sollte es nicht geben. Aber es ändert rein gar nichts an unserem Glück."

Auf die Frage, ob er sich nicht bei den Frauen entschuldigen sollte, denen er näherstand, antwortet Reichelt unumwunden: "Ich wüsste nicht, bei wem und wofür." Und weiter: "Die Aussagen, die ich kenne, sind ausschließlich anonym. Ich kann mich doch nicht bei Menschen entschuldigen, von denen ich nicht weiß, wer sie sind. Und ich kann mich nicht für etwas entschuldigen, von dem ich nicht weiß, was es konkret sein soll. Selbstverständlich gibt es Menschen, bei denen ich mich für Fehler entschuldigen musste und entschuldigen muss. Aber das ist nichts, was ich jetzt breittreten werde. Das habe ich privat getan."

Zeitweise erweckt Julian Reichelt in dem langen "Zeit"-Interview den Eindruck, Ziel einer groß angelegten Verschwörung zu sein. So glaube er, "eine überwältigende Mehrheit in diesem Land empfindet diese Form der Berichterstattung wie die über mich denn auch als absolut abscheulich", sagt Reichelt. "Große Teile der Berliner Blase aus Politikern und Redakteuren haben sich von diesem Land unendlich weit entfernt, und ich war unter diesen Leuten schon immer verhasst. Die Gründe sind nachvollziehbar, es geht um Themen, bei denen es großen Dissens gibt, etwa in der Migrations- oder der Corona-Politik. Das hat sich in den letzten Monaten noch beschleunigt."

 

"Nach zwanzig Jahren loyaler Arbeit, zehn davon in Kriegsgebieten, wurde ich in zwanzig Minuten am Telefon entsorgt." 
Julian Reichelt

 

Der "Spiegel" sei dabei "eine der treibenden Kräfte", findet Reichelt. Die Zeitschrift, mit der er aktuell vor Gericht wegen eines Artikels über das Compliance-Verfahren gegen ihn streitet, sei "das perfekte Beispiel dafür, wie sich Ideologie in Redaktionen ausgebreitet hat". Doch Kritik äußert der gefeuerte "Bild"-Chefredakteur auch an seinem ehemaligen Arbeitgeber. "Es wurde behauptet, der Vorstand habe mich nach meiner Beziehung gefragt, ich hätte abgestritten. Dann habe man mir Belege präsentiert, daraufhin sei ich eingeknickt und hätte alles gestanden. Das ist so niemals passiert. Ich habe dem Vorstand nicht die Unwahrheit gesagt."

Den auch bei Springer geäußerte Vorwurf, eine Kultur der Angst verbreitet zu haben, hält Julian Reichelt indes für "bigott". "Es ist doch klar, dass Leute Angst bekommen, wenn um sie herum lauter Kollegen entlassen oder abgebaut werden, wie man das nennt. Aber der Vorstand wollte, dass wir im Rahmen der Restrukturierung Personal abbauen. Das Unternehmen sollte hübsch gemacht werden für den amerikanischen Finanzinvestor KKR, der ja inzwischen auch eingestiegen ist. Da lässt man mich also erst rund 120 Kolleginnen und Kollegen entlassen – und das war für mich brutalst schmerzhaft – und wirft mir nachher vor, die Stimmung sei schlecht. Das hätte ich nicht für möglich gehalten."

Als "furchterregend, realitätsfremd" bezeichnet Reichelt indes die neue Regelung bei Springer, wonach Mitarbeitende ihre Beziehungen und Affären am Arbeitsplatz offenlegen sollen. "Soll es dann so eine Art Meldestelle geben, bei der man auch melden kann, wer mit wem flirtet? Da ist der Weg zum anonymen Denunzieren doch sehr kurz." Reichelt: "Mich besorgt es sehr, dass ausgerechnet Axel Springer jetzt unternehmensweite Standards für menschliche Beziehungen einführen will und gleichzeitig die unternehmensweiten Standards für unsere Solidarität mit Israel aufgibt. Alle Journalisten müssen ihre Beziehungen melden, aber vertraglich müssen sie sich nicht mehr zum Existenzrecht Israels bekennen, zum Beispiel bei 'Insider' und 'Politico'."

Von seinem Rauswurf habe er schließlich im Urlaub erfahren, als er am Autozug nach Sylt stand und einen Anruf von Mathias Döpfner erhielt. "Nach zwanzig Jahren loyaler Arbeit, zehn davon in Kriegsgebieten, wurde ich in zwanzig Minuten am Telefon entsorgt." Angesprochen auf seine Zukunft, erklärt der 41-Jährige, "auf jeden Fall weitermachen" zu wollen. "Ich möchte keine PR machen, sondern Journalismus für die Massen", so Reichelt. Wo? "Das wird sich zeigen. Wenn es keinen passenden gibt, hat man in einem freien Land ja die Möglichkeit, sich diesen Job selber zu schaffen."

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