Der Tod, schrieb Paul Celan während Hitlers willige Helfer die Welt gerade zum Massengrab machten, ist ein Meister aus Deutschland. Getötet, das war dem Dichter bewusst, werde zwar immer und überall. Doch wann immer dieses Morden geschäftsmäßig war, sogar industriell, seien Deutsche vorn dabei – also auch an der Westfront, die das Verhältnis zum Tod von Celans Kollegen Erich Maria Remarque einen Weltkrieg zuvor radikal verändert hatte.

Im Lazarett, wo der künftige Literat 1917 mit Tausenden versehrter Kameraden eine Schussverletzung auskurierte, trug er Berichte übers Sterben, auf denen elf Jahre später sein Schlüsselwerk basierte, zusammen. Kurz, bevor Deutschland der Welt das nächste Massengrab öffnete, erzählt „Im Westen nichts Neues“ so unverblümt vom Stellungskrieg, dass es Monate später erst- und 1979 abermals verfilmt wurde. Wenngleich in den USA.

Hierzulande hingegen blieb Remarques Weltbestseller bis tief ins Wirtschaftswunder als Dolchstoßlegende verfemt, von Kinoadaptionen ganz zu schweigen. Bis jetzt. Wobei auch hinter der dritten Filmfassung Amerikaner stecken, genauer: Netflix. Dort geht – nach kurzer Kinoauswertung fürs Oscar-Rennen – heute die Streamingversion der wichtigsten Antikriegsfiktion auf Sendung. Und wie es sich für Modernisierungen gebrauchter Stoffe gehört, ist sie expliziter denn je.

Nachdem das Deutsche Reich die – damals kollektiv kriegerische – Welt 1914 ins globale Völkerschlachten zieht, sind der Gymnasiast Paul Bäumer und seine Mitschüler zunächst begeistert, gegen den französischen Erbfeind ins Feld zu ziehen. Doch als die aufgestachelten Teenager dort landen, dauert es nur Tage, bis ihre Euphorie in Giftgas und Granaten erstickt. Je höher sich der Schützengraben mit Blut, Schweiß, Tränen echter Menschen füllt, desto tiefer sinkt die Motivation, für einige Meter Raumgewinn ins Trommelfeuer zu rennen.

Angerannt wird trotzdem. Immer und immer wieder. Befehl ist Befehl. Diesen Fatalismus gießt Edward Berger – durch Serien von „KDD“ und „Patrick Melrose“ bis „Deutschland 83“ oder „Your Honor“ auch international anerkannt, ohne Vorgeplänkel in drastische Bilder. Anders als Lewis Milestones schwarzweiße Deutung von 1930, anders auch als Delbert Mans sepiafarbige mit „Waltons“-Star Richard Thomas, hält sich der deutsche Regisseur nach eigenem Drehbuch nur wenige Minuten an der Heimatfront auf.

Zuvor aber sammeln Überlebende die Uniformen jener Soldaten vom Schlachtfeld, denen Kameramann James Friend zuvor in Zeitlupe beim Verrecken zusah. Säckeweise werden sie gereinigt, geflickt und für frisches Kanonenfutter heimwärts geschickt. „Die gehört schon jemand“, sagt Paul, als er im Kragen seiner Jacke „Heinrich Gerber“ liest. „War dem wohl zu klein“, antwortet der Quartiersmeister, reißt das Etikett ab und wirft es zu Boden, wo bereits Dutzende liegen – so lautstark still und leise balanciert Berger fast zweieinhalb Stunden über den schmalen Grat vom Leben zum Tod oder zurück.

Minute 11: Pauls Klasse jubelt zur nationalistischen Rede vom Schuldirektor über die Einberufungsbefehle. Minute 16: da ihr Lkw 25 Kilometer vor der Front für Verwundete gebraucht wird, vergeht den Rekruten beim Fußmarsch das Lachen. Minute 25: nach Dauerfeuer im Dauerregen sieht Paul dauerhaft aus wie ein Zombie. Minute 32: vom ersten Angriff traumatisiert, findet er die Leiche eines Schulfreunds und verliert endgültig alle Zuversicht. In der Geschwindigkeit haben Milestone und Man, ja nicht mal Remarque die Siegesgewissheit ihrer Figuren in Fatalismus verwandelt. Mehr als 90 Jahre nach der Urfassung verändert „Im Westen nichts Neues“ aber nicht nur das Tempo, sondern die Perspektiven.

Im Westen nichts Neues © Netflix / Reiner Bajo

Auch 2022 trifft der enthusiastische Patriotismus des blauäugigen Paul (Felix Kammerer) und seine Freunde Albert (Aaron Hilmer), Franz (Moritz Klaus), Ludwig (Adrian Grünewald) auf den Zynismus abgebrühter Veteranen wie Tjaden oder Kat, denen Edin Hasanovic und Albrecht Schuch nuschelnde Bodenständigkeit verleihen. Ihr Überlebenskampf steht allerdings im Schatten einer politischen Randerzählung, die Edward Berger dem Original nur andichtet. Während sich deren Handlung über Jahre hinzog, konzentriert sie sich hier auf die drei letzten Kriegstage, in denen der real existierende Parlamentär Matthias Erzberger (etwas zu liberal verkörpert von Daniel Brühl) mit Frankreichs Stabsführung um Waffenruhe ringt, was der deutsche General Friedrich (etwas zu preußisch dargestellt von Devid Striesow) mit Kaiser-Gott-und-Vaterland-Pathos untergräbt.

Oberflächlich mögen die Nebenkriegsschauplätze didaktisch wirken. Doch wenn Berger ordensdekorierte Offiziere gegen dreckverschmierte Grenadiere schneidet oder vom üppigen Frühstück der Heeresleitung auf die gelben Zähne der Frontsoldaten, bringt es die militärpolitische Menschenverachtung gut zum Vorschein und verlinkt sie mit der Gegenwart. Egal ob 1930, als der Pulverdampf von Verdun noch wehte, ob 1979, als der kalte Krieg tobte, ob 2022, als ein neuer heiß zu werden droht – selbst im postheroischen Zeitalter, dem die Kriegslust früherer Generationen so fremd ist wie deren Uniformität, sind deutsche Sekundärtugenden von Gehorsam über Disziplin bis Pflichterfüllung nicht totzukriegen.

Schon deshalb erinnert Edward Bergers nahezu komplett frauenfreie Neuinterpretation von „Im Westen nichts Neues“ manchmal an Mel Gibsons „Passion Christi“, die Jesus Christus als Schlachtopfer voyeuristischer Gewaltorgien zeigt. Gepaart mit Bildern kriegsversehrter Landschaften, die Volker Bertelmanns eindringliche Musik in Momente gespenstischer Ruhe taucht, wird der Tod hier bei aller Unerträglichkeit ästhetisch – und nicht nur deshalb ungeheuer sehenswert.

"Im Westen nichts Neues" steht bei Netflix ab dem 28. Oktober zum Abruf bereit.