Vor Erfindung des Internets arbeitete mein Freund Manny bei Saturn in Köln, dem damals angeblich größten Plattenladen der Welt. Seine Aufgabe: verzweifelten Radiohörern die Verzweiflung zu nehmen. Plattenverkäufer wie Manny waren die prädigitalen menschlichen Vorfahren von Shazam, der Smartphone-App, die (fast) jeden Song nach ein paar Takten erkennt. Die Kunden kamen zu Manny, wenn ihr Radiosender ein Lied gespielt hatte, das ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, von dem sie nur nicht wussten, wie es hieß oder wer der Interpret war. Also sangen, flöteten oder pfiffen sie Melodien, manche legten auch Zettel mit Textfetzen vor, wie die eine des Englischen nicht mächtige Kundin: „Fabian-Kassel-Wolz“. Eine ganze Mittagspause lang grübelte Manny, dann erlöste er die Radiohörerin: der Song hieß Far beyond these castle walls, gesungen von Chris de Burgh. 

Wer über Musik im Radio nachdenkt, muss auch über Liebe reden, über Emotionen, über Sehnsucht. Aber auch übers Alter. Es gibt einen klaren Schnitt zwischen Alten und Jungen, was die Liebe zur Musik und damit auch die Liebe zum Radio angeht. Die digitalisierte Jugend gibt einem neuen Song heute im Radio oder bei den Streamern ungefähr eine 20-Sekunden-Chance. Die Alten hingegen lieben die Lieder ihrer Jugend, und ganz gleich, ob Progressive oder Bluesrock, Gitarrenrock oder Softpop, sie wollen die Songs immer und immer wieder hören und schreiben empörte Mails, wenn ein Sender es wagt, Nothing else matters (Metallica) ausgerechnet vor dem Gitarrensolo abzublenden, weil dann Nachrichten oder die Werbung kommen. So gesehen ist es keine allzu kühne These, den Oldie-Sendern auch in der digitalen Welt eine aussichtsreiche Zukunft zu prophezeien. 

Als potentielles Publikum verstehen die meisten Sender „alles über Sechzig“, schielen aber auch schon auf die über 50jährigen. Weil sie selbst Oldie-Sendern „zu alt“ klingen, spielen die meisten nur noch vereinzelt Songs aus den 50ern, die Titel müssen schon Popkultur-Denkmale sein wie Jailhouse Rock (Elvis), Bye, bye, love (bye, bye happiness, hello lonelyness) von den Everly Brothers) oder Only you von den Platters. 

Richtig los geht es erst mit den 60ern, als die Popmusik für die Nachkriegsjugend erfunden wurde. Beatles, Stones, Beach Boys, der Sound bedeutete viel mehr als nur Musik, war Befreiung, verhieß Sex & Drugs & Rock´n´Roll. In den 70ern die Hippiephase, Love & Peace, Spirit in the sky oder My sweet lord, weggefegt vom Punk und den kühl, neonhaften 80ern, das Popjahrzehnt der Synthesizer, Schulterpolster und Föhnfrisuren. Too shy – hush-hush (Kajagoogoo), True (Spandau Ballet), The sun always shines on TV (a-ha) oder 99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont. Mit den 80ern endet das Repertoire der meisten deutschen Oldie-Sender, wer 1985 ein Teenager war, ist ja heute in den Fünfzigern. 

Natürlich findet die auf diese Weise popsozialisierte Ü-60-Generation nicht alles gleichermaßen gut, was Oldie-Sender spielen. Die (vor allem männlichen) Musikfreaks suchen sich vermutlich bei DAB oder im Netz enger ausgerichtete Spartenkanäle, das Angebot ist ja riesig: Gitarrenrock, 70er Softrock, Only 80s, Country, Jazzrock und so weiter. Die Zielgruppe der Oldie-Sender ist die breite Masse, also alle, die in der Jugend Einsteckalben mit Singles füllten oder bescheidene LP-Sammlungen mit ein, zwei Dutzend Langspielplatten besaßen. Wie tief die Liebe zur Musik der eigenen Jugend geht, belegen nüchterne Zahlen: Titel wie (If you´re going to) San Francisco (Scott McKenzie), Bad moon rising (CCR) oder Unchain my heart (Joe Cocker) kommen auf Zustimmungswerte von 90 Prozent, gefallen also quasi allen. Davon können junge Sender nur träumen: sie sind schon zufrieden, wenn 50 Prozent des Publikum ihre meistgespielten Songs gut finden – was aber auch heißt, dass die andere Hälfte mit einem ganz unruhigen Finger am Abschalt- oder Umschaltknopf sitzt. 

Und natürlich finden die Älteren auch nicht alles gut, nur weil es alt ist. Chirpy chirpy cheep cheep (Middle of the Road) wird bei einem hartgesottenen Led Zeppelin-Fan trotz einsetzender Altersmilde massive Abwehrreflexe auslösen. Es sei denn, die damalige Freundin stand auf Softpop, auf Dreamer, Get down oder Rocket man. Denn es geht dem Publikum der Oldie-Sender ja nicht nur um die Musik. Es geht um das große Ganze, das Lebensgefühl, um die eigene Jugend, das erste Verliebtsein, die Klassenfahrt, der erste Kuss, das erste Mal, das erste Auto. Viele dieser Ereignisse sind untrennbar verbunden mit den Hits der Zeit, ich werde immer romantische Zeltlager im Dauerregen mit Lola von den Kinks in Verbindung bringen. Für viele ist die Musik von damals so etwas wie eine Botschaft aus der „guten alten Zeit“ - kein Mensch denkt da an den stets drohenden Kalten Krieg, an Vietnam, Tschernobyl, an die Öl- und andere Krisen. Die (meist männlichen) Songwriter machten sich keinen Kopf übers politisch Korrekte, Frau hießen Angel, Girl, Mädchen und Lady oder durften mit den Autos der Beatles fahren (Baby you can drive my car). Michael Holm wurde nicht als Chauvi geoutet, nur weil er leider den Namen der Dame vergaß, die ihm auf der Straße nach Mendocino den Kopf verdreht hatte.  

Bekannte Oldies auch bei Spotify gefragt

Aus all diesen Gründen laufen diese Songs immer und immer wieder in den Oldie-Radios. Die älteren Programme spielen mehr Titel als die jüngeren, aber viel mehr als 1500 Songs sind es nicht, alle Titel sind zigfach durch die Marktforschung getestet und für gut und beliebt und bekannt befunden, alle Versuche, mehr unbekanntes Altes zu spielen, wird vom Publikum humorlos mit Abschalten beantwortet, warum auch sollte man im Alter hören wollen, was einem in der Jugend schon missfiel. 

Tatsächlich mögen wir Musik, die wir kennen, trotz zigfacher Wiederholung hören wir lieber Bekanntes als Unbekanntes. Wir konsumieren Radiomusik „nebenbei“, sie soll uns unterhalten, unsere Stimmung heben, uns mitsingen oder mitpfeifen lassen. Bei unbekannten Songs müssen wir genauer hinhören, um herausfinden, ob sie gefallen oder nicht. Es klingt paradox, aber auch bei YouTube oder Spotify sind die allen bekannten Oldies auch gleichzeitig die erfolgreichsten: Hotel California 615 Millionen Aufrufe bei YouTube, bei Spotify geht es auf die Milliarde zu, vor der auch Billie Jean von Michael Jackson steht. In the air tonight (Phil Collins) kommt auf über 500 Millionen Klicks bei YouTube (400 Mio. bei Spotify), 700 Mio. klickten bei Spotify Here comes the sun von den Beatles an, darunter wahrscheinlich viele, die den Song schon unzählige Male im Radio hörten.

Da sind noch mehr Radio-Oldie-Phänomene: in Deutschland gibt es regional – je nach Besatzungszone - unterschiedliche Vorlieben, die bis heute nachwirken. NRW und der Norden wurden eher von englischer Popmusik beschallt, während in Süddeutschland amerikanische Sounds beliebter waren. Auf den ersten Blick überraschend ist auch der recht hohe Anteil junger Menschen unter den Fans der Oldie-Sender (Marktanteile von fünf Prozent und mehr bei den unter-29-Jährigen). Hier geht es nicht um Erinnerungskultur, hier geht es um den Gesamtsound, der entspannt und positiv ist, ältere Programme sind weit weniger fordernd, sie gönnen ihrem Publikum Ruhe und Entspannung. Allerdings gleicht sich der hohe Anteil der jungen HörerInnen wieder aus: es gibt mindestens genauso viele ältere HörerInnen bei den jungen Programmen, die nicht ständig an ihre Jugend erinnert werden wollen, und – wie sangen schon Alphaville in den 80er – wenigstens im Radio Forever young lieber zur U-30-Party gehen als zum Seniorentreff. Dazu passt auch, dass die Süddeutsche Zeitung ihrer erwachsenen Leserschaft im Feuilleton das neue Album der 19-jährigen Billi Eilish als „großes Alterswerk“ empfiehlt.

Das Radio ist bei den Älteren auch deshalb so beliebt, weil es „nichts extra kostet“. Das ältere Publikum ist im Netz unterwegs, fremdelt aber mehr als die Jüngeren mit dem Streaming, nach einer frischen Erhebung der Landesanstalt für Medien NRW sind 57 Prozent der über 50-jährigen nicht bereit, für Streaming-Dienste zu bezahlen. Eine gute Nachricht für die Macher von Oldie-Radios. 

Wenn die ModeratorInnen ihr Publikum nicht allzu oft an Rollatoren und nächtlichen Harndrang erinnern und konsequent behaupten, 70 sei das neue 50, haben ältere Formate eine blühende Zukunft vor sich, zumal ihnen noch die letzten beiden analog sozialisierten Generationen ins Haus stehen (die 90er und Nuller-Jahre). So gesehen ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis zum ersten Mal auf einem Oldie-Sender Smells like teen spirit von Nirvana läuft.