Fritz Pleitgen, der große Fernsehkorrespondent und spätere Intendant des WDR, sagte mir einmal, er habe in jungen Jahren insbesondere von Radioredakteuren gelernt. In den 50ern und 60ern wurde der politische Diskurs ja vor allem in Zeitungen und im Rundfunk geführt. Das technisch aufwändigere Fernsehen bot mit der Tagesschau um 20 Uhr eine bewusst neutral gehaltene aktuelle Nachrichtensendung mit meinungslosen SprecherInnen und namenlosen Reporterberichten, während die Kommentare, Diskussionen, Glossen, Analysen eher in Zeitungen und im Radio zu finden waren. 

Lange her. Das öffentlich-rechtliche Radio entwickelte in den 60er und 70ern sehr erfolgreiche Magazinwellen wie SWF 3, Bayern 3 oder NDR 2, mit viel Musik und wenig Wort. Das Fernsehen überholte das Radio mit politischen Formaten und wurde die populärere Plattform für den politischen Diskurs. Neben den Kurzauftritten in den Popwellen bespielen die Radiojournalisten der ARD – darunter 59 Auslandskorrespondenten – heute mit Hintergrund-Reportagen, Dokus und Analysen vor allem die Info- und Wortradios, die sogenannten „Einschaltprogramme“. Der Begriff umschreibt diplomatisch, dass diese Programme eher nicht von der breiten Masse eingeschaltet werden, sie stoßen aber bei politisch Interessierten auf reges Interesse. Der Deutschlandfunk etwa rangiert seit Jahren unter den Top 10 der meistgehörten deutschen Radiosender. Dass Radiojournalisten – anders als die KollegInnen beim Fernsehen - keine bundesweite Bekanntheit erreichen, liegt nicht etwa an mangelnder journalistischer Kompetenz, sondern an der auf Regionen beschränkten Verbreitung der Radiosender. 

Und jetzt, im Digitalen, kommt wieder alles anders. Der Audiojournalismus, bisher eine weitgehend exklusive Domäne der Öffentlich-Rechtlichen, verändert sich gerade massiv. Überregionale Medienmarken wie Spiegel, Zeit oder FAZ bauen mit aktuellen und hintergründigen Podcasts, Interviews oder Dokus journalistische Audioportale aus, die ARD füllt ihre Audiothek mit den Highlights ihres Audioschaffens. Der Verlag Axel Springer will laut einer (audiophon gehaltenen) Pressemitteilung bis 2025 das führende Audiounternehmen im deutschsprachigen Raum werden. Jeder Text werde künftig auch „erzählt“, einzigartige Hörerlebnisse seien Vermarktungsmagneten. Podcast werde zum Mainstream, sagt Christoph Falke, Managing Director Axel Springer Audio, in den kommenden Jahren werde die Nutzung bei den über 30jährigen stark wachsen und mit 70 Prozent der Bevölkerung ein riesiges Potenzial neuer Hörer entstehen. 

Getriggert wird das Audio-Engagement der Öffentlich-Rechtlichen durch rückläufiges Interesse der Jungen am klassischen linearen Radio, während es bei den privaten Medienhäusern sinkende Auflagenzahlen von Zeitungen und Zeitschriften sind. Die mit stetem Blick aufs Smartphone nachwachsenden jüngeren Generationen zeigen wenig Neigung, Abos für Printmedien abzuschließen, interessieren sich aber durchaus für Information und Hintergrund. Der Gedanke, die Jüngeren dort abzuholen, wo sie sind, also am Smartphone, ist weder neu noch originell, aber trotzdem richtig. 

Warum wird nun gerade Audio als das neue große journalistische Wachstums-Ding gesehen, wo es doch bereits zig Millionen YouTube-Videos, Tik-Tok-Feeds oder Insta-Storys gibt, die angeschaut werden wollen? Ganz einfach: Audio kann auch ohne übermenschliche Multitasking-Fähigkeiten parallel zu anderen Tätigkeiten konsumiert werden. Beim Autofahren, in der Bahn, beim Putzen, Kochen, Waschen, Joggen oder was-auch-immer werden Dokus oder das „Corona-Virus-Update“ gehört, lacht das Publikum über „Gemischtes Hack“, lässt man sich von „Spiegel-Daily“ über das Tagesgeschehen informieren oder von „Reisen Reisen“ Urlaubsziele beschreiben. Der Audiojournalismus konkurriert also eher nicht mit visuellen Angeboten, sondern kommt quasi „on top“. Während für Netflix, YouTube oder Spiegel-Online der Tag des Publikums immer nur 24 Stunden hat, ist der Tag für Audio einige Stunden länger. 

Die Medienforscher untermauern den Optimismus der Audioschaffenden. Nahezu alle 14-29-Jährigen nutzen Audioangebote online (ARD/ZDF/Onlinestudie 2020), bei den unter-40-Jährigen sind es auch schon 75%, jeder Zweite unter 30 hört wenigstens gelegentlich Podcast, 24% wöchentlich. Auf dem Markt kursieren widersprüchliche Zahlen, es wird viel spekuliert, manche erwarten das Ende des Podcast-Booms, andere Stagnation und wieder andere sind überzeugt, es gehe gerade erst richtig los. Vielleicht ist bei einigen Produzenten derzeit die Phantasie größer als das tatsächliche Publikumsinteresse, aber es reicht der gesunde Menschenverstand, davon auszugehen, dass die mit dem Smartphone Sozialisierten nutzen, was das Smartphone zu bieten hat, also auch jede Form von Audio wie Musik, Radio, Podcast, Hörspiel, Hörbuch – und zwar wann und wo man will. Noch attraktiver wird Audio durch neue Formen, Mischungen aus Doku, Podcast und Fiktion, modernes Storytelling, kein Abklatsch von Fernseh- oder Zeitungsreportagen, sondern aufwändig inszenierte radiophone Formate wie „WTF happened to Ken Jebsen“ (NDR) oder „Faking Hitler“ (Stern). 

Subjektivität und Persönlichkeit

Mit jedem neuen Spotify-Tag kommen mehr Audio-Angebote auf den Markt, allerdings auch drängende Fragen. Wie wird ein Podcast sichtbar, wie lässt sich mit Audiojournalismus Geld verdienen? Wie können die von der Umsonst-Kultur geprägten User überzeugt werden, nicht vor der Paywall abzubiegen? Guter Journalismus ist aufwändig, ob Text, Video oder Audio, vor allem, wenn die Beiträge exklusiv und individuell sein sollen, wenn die Persönlichkeit von ModeratorInnen gefragt ist, wenn Audio auch tatsächlich audiophon klingen soll und nicht bloß eine Voice-Maschine eigentlich fürs Lesen geschriebene Texte vorträgt. 

Spannend auch, wie sich die neuen Angebote von den Sendungen und Audios der Öffentlich-Rechtlichen abgrenzen. Die Wortprogramme der ARD folgen – die GEZ-Gegner mögen es anders sehen - traditionell dem Ideal der Ausgewogenheit, viele Sendungen und Beiträge sind klassische Pro- und Kontraformate, während private Medien wie etwa Spiegel, Zeit, SZ, FAZ oder Welt frei sind, „ihr“ Ziel-Publikum zu definieren. Amerikaner wissen, wo CNN oder FOX-News stehen und so wird es auch im deutschen Audiojournalismus sein – die Medienmarken werden sich in Abgrenzung zu den Öffentlich-Rechtlichen spitzer aufstellen, sich im Gegensatz zu ihnen nicht auf alle Beitragszahler, sondern auf „ihre“ Abonnenten konzentrieren. Für das deutsche Publikum eine neue Hör-Erfahrung. 

Und noch „spitzer“ sind die von Medienhäusern unabhängigen Podcasts programmiert. Ein „Einzelkämpfer“ wie Micky Beisenherz lädt sich in seinen Top-20-Podcast „Apokalypse & Filterkaffee“ nur selten Journalisten mit konträren Positionen ein. Meist sind sich der Moderator und seine Gäste in der Bewertung politischer Vorgänge recht einig, man scherzt, macht sich Komplimente, stimmt sich zu, bedient also die „eigene Blase“. 

Die in dieser Woche veröffentlichte Podcast-Studie der Otto-Brenner-Stiftung sieht beim Podcast im Gegensatz zum Hate-Speech in den Sozialen Netzwerken eine kultivierte, respektvolle Kommunikation, stellt aber auch journalistische Mängel fest, die Berichterstattung sei zuweilen unbelegt und mit kommentierenden Bewertungen durchsetzt. 

Subjektivität und Persönlichkeit machen aber Podcasts-Stars wie Jan Böhmermann, Felix Lobrecht oder Klaas Heufer-Umlauf erst aus. Und so werden sich auch im Audiojournalismus in Konkurrenz zu dem komplexen Audio-Angebot der ARD-Radios und des Deutschlandfunks nach dem Vorbild von Micky Beisenherz oder Gabor Steingart klar positionierte Audio-Stars entwickeln, die es im regional verankerten, um Ausgewogenheit bemühten, analogen Live-Radio gar nicht geben konnte. Spannende neue (Audio)-Zeiten.