Vorurteil der Woche: Nirgendwo geht das Fernsehen so skrupellos mit seinen Protagonisten um wie im Dschungelcamp.

* * *

Längst ist es dunkel, als Christian und Chiara gesagt kriegen, dass sie in den nächsten zwei Wochen in Lehmhütten schlafen sollen, hier in der Einöde von Swasiland, wo die afrikanische Bauernfamilie sie freundlich empfangen und ihnen ihr Dorf gezeigt hat. Da wird dem 16-Jährigen alles zuviel. "Wenn ich zuhause bin, erschieß ich meine Eltern", hatte Christian schon angekündigt, als klar war, dass der vorgetäuschte Partyurlaub ins Wasser fällt. Jetzt muss er zurückgehalten werden, um nicht auf die anderen loszugehen. "Ich war zehn Jahre in einem beschissenen Heim", brüllt er, "keiner hat mich geändert, also schafft ihr das auch nicht!" Die Gastgeberin ist in Tränen aufgelöst.

Genau das war der Moment, an dem sich Sat.1 im vergangenen Jahr dazu entschied, in die Werbepause zu gehen und dem Publikum von einer gut gelaunten Männerstimme vorher das Gewinnspiel erklären zu lassen:

"Am anderen Ende der Welt schwitzen die Teenager – aber Sie können entspannt 5000 Euro gewinnen!"

Was sonst?

Sat.1-Reality 'Die strengsten Eltern der Welt'© Sat.1 (Screenshot)

"Die strengsten Eltern der Welt" heißt die Reality-Reihe, die der Sender als "Erziehungsexperiment" getarnt seit Herbst auch zur Hauptsendezeit ausstrahlt. Ursprünglich für kabel eins entwickelt, waren die "Strengsten Eltern" nach dem dortigen Erfolg zum Schwesterkanal gewechselt. Und kabel eins hat sich mit "Endstation Wildnis – Letzte Chance für Teenager" vor zwei Wochen Nachschub besorgt.

Der größte Unterschied zum Original besteht darin, dass die kabel-eins-Variante die Fälle auf die doppelte Sendezeit auswalzt, den Gastfamilien in der Fremde aber wenigstens zwei Pädagogen zur Seite stellt, um der überrumpelten Jugendlichen Herr zu werden (ganze Folgen bei kabeleins.de ansehen).

Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Teenager-Bekehrung – die zuvor in vergleichbarer Art bereits bei RTL und RTL II zu sehen war – zu den niederträchtigsten Formaten im deutschen Fernsehen gehört. Weil die Produzenten behaupten, jungen Menschen eine neue Perspektive zu geben zu wollen, ihnen genau dabei aber wegen der drastischen Konfliktinszenierung langfristig im Weg stehen.

Die Machart ist immer dieselbe:

1. In ihrer gewohnten Umgebung werden die Jugendlichen dazu angestachelt, sich für die Kamera von ihrer schlimmsten Seite zu zeigen, mit Schlägerein zu prahlen, Verhaftungen aufzuzählen, Trinkexzesse zu schildern. Bei "Endstation Wildnis" darf der 15-jährige Jason demonstrieren, wie er seine Großmutter täglich behandelt, zu der er nach diversen Heimaufenthalten gezogen ist. Mit seinen 120 Kilo liegt er auf der Couch, stopft pausenlos Chips in sich hinein und traktiert die Oma mit Kommandos und Beleidigungen: "Fick dich, halt's Maul, Alter", "Komm, geh sterben", "Beweg den Arsch jetzt her, du dickes Ding, du fette Sau".

2. Verzweifelte Erziehungsberechtigte erzählen, wie sie die Kontrolle über ihre Kinder verloren haben und nicht mehr weiter wissen. Die familiären Situationen – alleinerziehende Mutter, verschwundener Vater oder Aufenthalte in der psychiatrischen Anstalt – sind Randnotizen.

3. Dann übernimmt das Fernsehen das Kommando. In einem Slum der brasilianischen Hauptstadt Rio de Janeiro wird den vier Teenagern von "Endstation Wildnis" offenbart, dass sie mit falschen Versprechen hergelockt wurden und statt Saufferien beim Bau eines Gemeinschaftszentrums für die Bewohner mithelfen sollen. Die damit provozierten Tränen-, Fluch- und Gewalt-Ausbrüche sind erster Höhepunkt der Sendung und ideales Trailer-Material. Jason geht sogar auf die Kamera los, weil er nicht mehr gefilmt werden will. Aber das kommt nicht in Frage.

kabel-eins-Reality 'Endstation Wildnis - Letzte Chance für Teenager'© kabel eins (Screenshot)

4. Es folgen: Zusammenbrüche, Heimweh, Gehorsamsverweigerung. Die weitere Entwicklung wird mit kleinen Szenen vermeintlicher Besserung gespickt, aber nur, um jedes Mal neue Konflikte folgen zu lassen. Nach jeder Werbepause ist bei kabel eins "der Erfolg der Mission gefährdet" und der Off-Sprecher mit verbalem Dauerkopfschütteln beschäftigt:

"Von Einsicht keine Spur", "ein Armutszeugnis", "schnell zeigen die Teenager erneut ihre faule Seite", "mit dieser Einstellung sind sie (...) immer wieder gescheitert", "das Team droht zu zerbrechen", "wie in Deutschland fällt es den Teenagern schwer, Wort zu halten und für etwas Bedeutendes in ihrem Leben zu kämpfen".

5. Kurz vor Schluss folgt doch noch die Zähmung, sämtliche Konflikte lösen sich in Luft auf. "Gekommen sind sie als Problem-Teenager, verlassen werden Sie Brasilien als junge verantwortungsbewusste Erwachsene", heißt es auf kabel eins – was den Sender nicht daran gehindert hat, die "Endstation" in den Titel zu nehmen. Und bei den "Strengsten Eltern" erklärt die Bauchbinde:

"Christian, 16, hat seine Lektion gelernt."

Fürs Fernsehen ist die Angelegenheit damit in der Regel erledigt. (Es sei denn, das nachfolgende Reportagemagazin wünscht die Inszenierung eines Wiederbesuchs.)

Bestenfalls haben sich die Teenager wirklich zum Umdenken bewegen lassen. Was aber passiert wohl im Leben junger Menschen, die geläutert aus dem Fernsehexil in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren, wo sie Mitschülern, Lehrern und potenziellen Arbeitgebern ein für alle Mal als "Problem-Teenager", "respektlose Krawall-Kids" und "Terror-Teenies" in Erinnerung geblieben sind, deren Ausraster – wie bei den "Strengsten Eltern" –  zur Titelmusik von Rammstein ausführlich im Hauptabendprogramm dokumentiert wurden.

Das Fernsehen ist längst weg, wenn die 17-Jährige damit umgehen muss, dass alle von ihr wissen, wie sie von der Umerziehung geschockt der kranken Mutter ins Telefon ausrastet: "Verreck an deinem Krebs!"

Es sind selten die am Ende stehenden Szenen der Versöhnung und die Umarmungen mit der Familie, sondern die vorherigen Ausbrüche, Beleidigungen und die Gewaltexzesse, die haften bleiben. Weil Fernsehen so funktioniert. Und weil Produktionen gewollt sind, die sich beliebig oft wiederholen lassen. So werden Teilnehmer schlimmstenfalls auch noch in Jahren immer wieder mit ihren früheren Sünden konfrontiert – selbst wenn sie sich komplett gewandelt haben. Die einzige Hoffnung ist, dass sich möglichst wenig Zuschauer für eine Sendung interessieren und die daraufhin für immer im Archiv verschwindet.

Es ließe sich ja darüber streiten, ob es womöglich richtig ist, Jugendlichen unter dem Einfluss anderer Kulturen die Einsicht aufzuzwingen, falsch gehandelt zu haben. Aber wozu sollten dabei Kameras laufen?

Dass Eltern das Gefühl haben, sich sonst nirgendwohin wenden zu können, und deshalb das Fernsehen um Rat bitten, ist bedenklich genug – und offensichtlich keine Seltenheit. ("Auch Sie haben Problem-Teenager, die Sie auf eine Mission schicken wollen?", kümmert sich kabel eins zwischendurch per Einblendung um Krawallnachschub.) Viel schlimmer ist nur, dass die Programmverantwortlichen gut damit leben können, junge Menschen mit schwerwiegenden Problemen und Traumatisierungen einer Produktionsfirma anzuvertrauen, die sich auf Formate spezialisiert hat, in denen besonders gegensätzliche Menschen aufeinander gehetzt werden. Und dass sie das ihrem Publikum zur Abendentspannung vorsetzen.

Wer diese Sendungen über zwei Stunden mit Bauchschmerzen erträgt, vergisst augenblicklich, das Dschungelcamp zu fürchten.

Das Vorurteil stimmt nicht.

Sie haben auch Vorurteile? Her damit! Einfach eine Mail an vorurteil@dwdl.de schicken.