Wir sind Kriegshelden: Der Echo 2004

Ein Mal im Jahr ist Krieg in Deutschland. Aus dem ganzen Land ziehen Gladiatoren in Richtung Arena, versammeln sich zähnefletschende Kampfkolosse zum finalen Celebrity Deathmatch, horten sich ausgehungerte Söldner zur letzten verbliebenen brutalen Schlacht Nachkriegsdeutschlands: Sie nehmen Platz im ICC Berlin und harren des Spektakels von Blut und Tränen, der Echo-Verleihung, der goldenen Guillotine der Plattenindustrie.

Das martialische Event, von wem wenn nicht von Radio Television Luxemburg und seinem vordersten Frontkämpfer Geissen (36, "Trimm Dich - Fitnessqueen trifft Fettgewebe") in alle Regionen des befriedeten Landes ausgestrahlt, sammelt nicht nur die Kohorten der feindlichen Lager, sondern auch Beobachter und Schaulustige, Kriegshuren und Friedensengel: So Desirée Nosbusch (39, "Ein Alptraum von 2 1/2 Kilo"), die mit zitternder Stimme mahnt: Liebe, so haucht sie untergangsgewiss in die Visagen der schäumenden musikalischen Orghs und Uruk-Hais, Liebe sei der einzige echte Pop-Titan.

Das mag für einen Moment besänftigen, die ersten Wogen glätten - aber nur so lange, bis der erste Sprengsatz gelegt ist, der erste Panzer zu rollen, zu hüpfen beginnt: Sehnig und tuckig hüpft er auf die Bühne, onomatopoetisch weckt er die schlafenden Krieger: Wie ein Dämon zerreisst Michael Mittermeier (37, "Jamaikanische Fußballkiffer") das Tuch des Schweigens, wie ein kleiner Teufel weckt er die Kampfesgelüste der Matadoren, voller Inbrunst pisst er auf die weiße Flagge: "Revolution!" Es ist ein Comeback und ein Revival, die neue Frisur, die innovativen Gesten, Armbewegungen und Hopser begleitet ein Sound der 30er Jahre, sein Ton - kein zufälliger Fehler des RTL-Teams - ist überzeichnet und nähert sich von Schrei zu Schrei mehr dem eines Volksempfängers. Er ruft zum Kampf: "Revolution!", "Casting-Terror!", "Dieter Hussein!", "Nach Guantanamo Bay!" Und: "Man kann ja viel gegen die Taliban sagen, aber... Sie singen wenigstens nicht!"

Es ist ein Moment der Wahrheit, der Erkenntnis: Wer, wenn nicht die zerschundenen Hit-Soldaten, deren Sold von Kazaa und E-Donkey geraubt, deren Ehrenplaketten von Einbrechern entwendet, deren Land von den eigenen Kindern versklavt wurde, wer, wenn nicht sie haben einen Anspruch auf die Genfer Konvention, wer, wenn nicht sie brauchen unser Mitgefühl?

"Mischt Liebe under die Leude", sagt dann auch Xavier (sprich: Saviour) Naidoo (33, "Zion"), der die Bühne gemeinsam mit Homie Robert Diggs (sprich: Rissa, 43, "The World According to RZA") betritt. Doch sowohl der Beschützer als auch der Weltenlenker sind offenbar machtlos gegenüber dem blutrünstigen Ritual, das an diesem Abend stattfindet soll. Die beiden Bemützten verlassen die Bühne unverrichteter Dinge.

Denn der Preis der "Single Rock/Pop National" geht an den mächtigen und dunklen Herrscher und seine Gefolgsleute, der Trupp, der Angst und Schrecken verbreitet hat und im Begriff ist, dies weiter zu tun: Die Söldner Des Superstars, kurz DSDS - allen voran ihr Leitwolf (50, "Ich danke meinem Buddy Kai Dieckmann"), der noch ein weiteres Mal durch den kalten Nebel des Schweigens laufen soll, heute abend. Durch den von Giftschwaden durchsetzten, so ohrenbetäubend stillen Tunnel, entlang an allen Feinden an den Trog, diesem Moment, in dem er feststellt, dass er seit dem Auftritt von "The Darkness" einen leichten Tinnitus hat. Nur kurz richtet der Zögling Alexander (14, "Karaoke im Altersheim") das Wort an die Truppen der Gegner, schon verschwindet die Kinderriege, verliert sich die Clique im aufsteigenden Dampf der vorübergezogenen Schlacht.

Bleiben Fragen: Warum steigt Yvonne Catterfeld unbeschadet von der Rosenschaukel, die sie von Jennifer Lopez geborgt hat? Warum schlendert Pink lustlos aus ihrem fliegenden Käfig, ohne eine Attacke befürchten zu müssen? Und was ist mit Frauke Ludowig?

Vielleicht weil am Ende der Moscito steht, exquisit zusammengestellt und gemischt, gekühlt und von Londoner Barkeepern mit einem Lächeln ausgehändigt. Einmal im Rachen, im Magen, im Kopf macht sich auf der After War Party dumpf, aber befriedigend die Erkenntnis breit: Du, Buddy, wir sind Kriegshelden.