Seine Exzellenz Günther Jauch, König des Unterschichtenfernsehen
Über 650 Sendungen. Mehr als 5.000 Studiogäste. Am 4. April 1990 um 22 Uhr betrat ein Mann im quietschbunten Hemd und geschmückt mit einer Papageienkrawatte das Studio von "Stern TV". Mitten im Prozess der Wiedervereinigung schuf "RTL plus" eine Fernsehinstitution: Unterschichtenfernsehen mit durchdringender investigativer Schlagkraft, ein wacher Chronist und unterhaltsamer Begleiter. Stern TV berichtete über beide Irak-Kriege, startete mit Kohl und wird lange nach Schröder weitersenden. Und ist ungefähr so lange auf Sendung, wie mir dieses einfache, bedeutungsvolle Wort bekannt ist: "Öffentlichkeit".
Die Gesamtheit der möglicherweise an einem Ereignis teilnehmenden Personen ohne jede Begrenzung in der Anzahl oder durch sonstige Einschränkungen - das ist das Publikum dieser Sendung. Die Sendung ist, reflektiert, verändert und prägt Öffentlichkeit. Sie ist ein absolutes öffentliches Gut. Der SPD-Politiker Conrad Ahlers prägte das Zitat: "Öffentlichkeit ist Verbreitung von Wahrheit in verschönerter Form." Günther Jauch präsentiert uns (in der Champions-League-Übertragung) ein in sich zusammenfallendes Tor wie ein Ereignis, eine Panne wie ein Geschenk, denn wir dürfen dabei sein und uns unterhalten lassen. Er personifiziert das Modellbeispiel des vielgescholtenen Genres Infotainment.
Wie oft schon haben Meinungsumfragen gezeigt: Jauch würde alle Berufspolitiker in einer Stichwahl um das Bundeskanzleramt weit hinter sich lassen. Und vielleicht fänden sich auch Stimmen, die eine Verlegung der wichtigsten Gesetzesvorhaben vom Bundestag in Berlin ins Studio 6 der NOB-Studios nach Köln-Hürth bejahten. Michail Gorbatschow beispielsweise gab sein erstes Live-Interview auf deutschem Boden in Hürth, den elften September arbeitete seine Redaktion einen Tag nach dem Anschlag in einer vierstündigen Sondersendung auf. Michael Schumacher, Roman Herzog, Larry Hagman, Thomas Gottschalk, Harald Schmidt, Gerhard Schröder, Claudia Schiffer, Inge Meysel, Steffi Graf, Sting, David Copperfield. Die Themen und Gäste von Stern TV spiegeln den Boulevard und die großen Themen der 90er und 00er Jahre. Angelika Friederitzi und ihre Mitarbeiter im Archiv von sterntv wachen über die Chronik öffentlicher Meinung des wiedervereinigten Deutschland.
Denn um Ahlers' "verschönerte Form" zu bilden, bedarf es einer Stellungnahme. Jedes Ereignis, das Stern TV in den letzten Jahren begleitet hat, seien es entstellte Kinder aus Bürgerkriegsregionen oder Schwänzereien der Europaabgeordneten, jeder Beitrag forderte eine Pointierung und Bewertung ein, die die journalistische Mischform eines Reportage-Magazins mit Studio-Diskussion mit sich bringt. In dieser Stellung konnte Günther Jauch seine Popularität gewinnen: Als ein Vermittler der großen und kleinen, in seinen Worten immer relevanten Themen, die nie ohne eine Bewertung, immer mit Erläuterung und grundsätzlich beruhigend sicher von der erste in die zweite Öffentlichkeit getragen wurden. Von der Entstehung der Ereignisse über ihre Berichterstattung - manchmal auch in umgekehrter Reihenfolge - hin zu ihrer Diskussion schuf Jauch ein ums andere Mal schönere, zumindest aber wirksamere Formen einer Wahrheit, die damit zur nach Ahlers zur Öffentlichkeit wurde. Deshalb ist er der eigentlich wichtigste Protagonist des Unterschichtenfernsehens, des großen Teils der Bevölkerung, der gut damit leben kann, Informationen unterhaltsam erklärt zu bekommen.
In der vergangenen Woche feierte Stern TV mit einer riesigen Torte und vielen Kindern, einer von ihnen und unter sie gemischt Jauch, der unbefangenste Mensch im deutschen Fernsehen. Eigentlich sollte er die Torte alleine aufessen. "Man kann sich an der Sendung reiben, sie mag manchmal gut sein, manchmal weniger gut. Aber ein Geheimnis von 'Stern TV' ist und bleibt, dass am nächsten Tag viele Menschen darüber reden oder sich ärgern, wenn sie die Sendung verpasst haben", hat er anlässlich des Jubiläums gesagt. Warum so bescheiden? Ich gratuliere der Sendung. In aller Öffentlichkeit.