"Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm." - Unter diesem Motto, entliehen von der NDW-Band "Palais Schaumburg", meldete sich 2004 einer der wichtigsten Entscheider des Musikgeschäfts zu Wort. Tim Renners Reflexion über die Krise einer Industrie war, nach 17 Jahren in den Strukturen der Majorlabels, kurz nach seinem Rücktritt als CEO des größten deutschen Labels Universal, eine Generalabrechnung mit den Mechanismen seines Geschäfts. Vor allem aber war das Buch, nachdem "1997 bis 2003 ein Drittel des Gesamtmarktes verlorenging", eine Antwort auf die Frage des Warum und Wohin der Plattenindustrie. Als Fazit stellte der ehemalige Universal-Boss Renner das Gleichgewicht von "Inhalt, Kapital und Verantwortung" in den Mittelpunkt. Das Label "Motor" und der Radiosender "Motor FM" folgten.
"Wir haben einen Auftrag." So lautete das Motto der Stunde. Motor FM spezialisierte sich auf Alternative-Musik, legte einen besonderen Fokus auf deutschsprachige Künstler, deren Demontage bei den Majorlabels Renner nicht mittragen wollte, und kombinierte herkömmliches UKW-Radio mit den Möglichkeiten einer Onlineplattform. Das machte es Motor FM möglich, ein Privatradio ohne Werbeblöcke zu sein: Stattdessen vertreibt der Online-Shop des Senders die gespielten Tonträger selbst. Mittlerweile sendet Motor FM in Berlin, Teilen von Brandenburg und Stuttgart "Musik, die wichtig ist, für Menschen, denen Musik wichtig ist". Und auch der folgerichtige nächste Schritt des Motor-Teams um Renner resultierte aus persönlichem Stolz: Weil MTViva die Musikvideos, die Herrn Renner und Kollegen gefallen, nicht mehr spielt, spielen die sie eben selbst. Als ein Teil seines Resumees beobachtete Feldforscher Renner die Metamorphose der Musiksender zu Lifestylesendern und fand, wie mit "Motor Music" und "Motor FM" keine andere Antwort, als es selbst anders zu machen.
Weil die Neuausrichtung der traditionellen Sender als Lifestylesender zu Gunsten stromlinienförmiger Schnellunterhaltung ausfiel, ging sie auf Kosten der Musik. Das konsequente Gegenmodell des Motor-Verbund heißt "Motor TV" und kann dementsprechend nichts anderes zeigen als Musikvideos. Ausschließlich Musikvideos: Eine schlichtes, konzentriertes Prinzip, das alle Erwartungen erfüllt. Keine Werbung, keine Moderatoren, kein Popanz. Motor TV folgt in der Musikauswahl dem Motor-Radiosender und fungiert nicht als eine Wundertüte voll Süßem, sondern als Filter: Was der "Selbstbroadcaster" YouTube nur mithilfe von Ratings oder persönlicher Empfehlungen vermag, will "Motor TV" mit einem stiloffenenen, qualitätsorientierten Redaktionsprinzip lösen. "Motor TV versucht, der Freund zu sein, der dir ein Video empfiehlt", umschreibt es Tim Renner.
Lange nach dem vielbetrauerten Ende von Viva Zwei traut sich Motor FM mit schlanker Figur auf den Markt. Alternative, Independent, Punk und Elektromusik, manchmal erstaunliche Videokunst findet in einem unaufgeregten Rahmen Beachtung. "Keine US-Shows, keine Klingeltonwerbung, kein Mainstream", wirbt Motor FM lapidar. Dort läuft in diesem Moment Danko Jones' Video "First Date", während sich auf MTV in "My Sweet Sixteen" nordamerikanische Snobkinder in einer Boutique danebenbenehmen, auf VIVA die Mitglieder der Teenie-Band US 5 die Vorzüge einer Stretch-Limousine propagieren und VIVA Plus auf die Ringtone-Charts überleitet. Jeweils so fern von Musik wie Carmen Nebel von einer Rockgitarre. Motor TV ist aus einem Leidensdruck entstanden.
Die Konsequenz aus der Motor-Idee, wonach Musik wichtiger ist als seine Nebenprodukte, lässt sich an Motor TV am klarsten nachvollziehen. Ganz ohne kleinere Einspieler und kurze Textbeiträge als Voiceover kommt es zwar nicht aus, aber bevor man sich mit einem dieser Texte ("Starthilfe" für neue Bands, "Auslandsspionage") näher beschäftigen kann, wird man als Zuschauer schon an das Wesentliche herangeführt und bekommt das Musikvideo zu sehen. Der Sender als Freund scheint weniger daran interessiert, seinen "Gegenüber" mit Informationen vollzupumpen, als eine kurze Empfehlung abzugeben.
Lässt man sich einen Nachmittag lang von Motor TV unterhalten, stellt man sich die Frage, was mit all den Musikvideos passieren würde, wenn es niemanden gäbe, der sie ausstrahlen kann, was also in den letzten Jahren mit einer Idee passiert ist, der man mal generationsprägende Strahlkraft attestiert hat. Es ist das Gefühl, mit all diesen Musikvideos etwas verpasst zu haben - etwas das "Mädchen aus Greifswald" von Tempeau oder Problembär Bruno in Winson's "Zu Schön": Kleine, erfrischende Beiträge, für die man den Sender rühmen will, der sie transportiert.
Zwar sind die Reichweiten noch begrenzt. Motor FM sendet in Berlin und Brandenburg über DVB-T, ansonsten in Kombination mit den anderen Online-Komponenten über einen guten Stream. Dem Haufen von Aussteigern aber, den der Ex-Universal Chef zusammengestellt hat, wie etwa Geschäftsführer Markus Kuehn (vorher ZDF) oder Mona Rübsamen (vorher MTV), traut man mehr zu. Vielleicht, weil sich ihre Idee schneller erklären lässt als ein halbes Musikvideo lang ist.