Smartphones, diese stromverfressenen, konsumsüchtigen, aufmerksamkeitsheischenden, pseudokommunikativen Zeitdiebe: dass sie mal so sinnlich, klug, originell in Szene gesetzt werden wie zu Beginn einer neuen Streaming-Serie aus der Plastikgefühlsfabrik von ProSiebenSat.1 und Discovery, hätte wohl nicht mal Steve Jobs gedacht. Tief unter der Stadt veranstaltet Münchens Jugend gerade einen illegalen Rave, da kappt jemand den Strom – und was geschieht im Augenblick völliger Stille? Nur Hunderte von Handys sorgen noch für Licht im Dunkel.

Dann bricht Panik aus.

So imposant, so trügerisch glitzert der Auftakt einer Milieustudie bei Joyn Plus+, die vom ersten Hochglanzbild an mit Vorurteilen Erwachsener zu kämpfen hat. Schließlich läuft "Katakomben" nicht nur auf der digitalen Plattform eines kommerziellen TV-Konzerns, dem Flitter und Tand strukturell wichtiger sind als Inhalt und Moral; der Sechsteiler richtet sich an deren Hauptzielgruppe: Fans selbstverliebter Internetstars wie Janosch, der selbst im Qualm einer eskalierten Untergrundparty noch fröhliche Instagram-Videos postet, als sei die Welt ein Kinderspielplatz.

Nur: das ist sie nicht – weder in der Realität noch in ihrer Fiktion. Gemeinsam mit Regisseur und Co-Autor Jakob M. Erwa, hat Showrunner Florian Kamhuber seiner Geburtsstadt nämlich ein Seriendenkmal gesetzt, das zwei Münchner Unique Selling Propositions genannte Markenkerne nachstellt: bedingungslosen Hedonismus und noch viel bedingungslosen Kapitalismus. Ersteres bringen wohlstandsblinde Rich Kids der lokalen Partyszene zum Ausdruck, letzteres ihre Eltern, die Bayerns Hauptstadt zur Mehrung von altem und neuem Geld filetieren, ohne Rücksicht auf alte und neue Armut zu nehmen, die darauf fußt.

Im Mittelpunkt dieser quietschbunten Schwarzweißgeschichte steht das materiell verwöhnte, aber menschlich vernachlässigte Millionärskind Nellie (Lilly Charlotte Dreesen), die ebenso wie ihr schriller Kumpel Janosch (Yasin Boynuince) vor allem Party wie jene unterm Hauptbahnhof im Sinn hat – bis ihr Bruder Max (Nick Romeo Reimann) auf der eingangs erwähnten verschwindet und seine Freundin kurz darauf tot am Isarstrand liegt.

Bei der anschließenden Suche nach dem Vermissten, stößt sie auf die rätselhafte Tyler (Mercedes Müller) und eine Schar Ausgestoßener in den "Katakomben". Vom Monopoly explodierter Immobilien- und Mietpreise unter Tage verdrängt, verteidigt sich Tylers Gemeinschaft gegen skrupellose Spekulanten wie den Baukonzern Limberger Living, der das Sahnestück darüber im städtischen Auftrag von Nellies Mutter, der Baudezernentin Anna Mahler (Aglaia Szyszkowitz), mit einem offiziell sozialverträglichen, inoffiziell ausgrenzenden Glas-Stahl-Komplex vergolden soll.

Es geht also um die Kehrseiten der Medaille einer Gesellschaft, die hierzulande kaum irgendwo gespaltener ist als in Florian Kamhubers Heimat, wo sich selbst der gehobene Mittelstand kaum noch Wohnraum leisten kann. Münchens wahrhaftige Katakomben, auf die der Showrunner in einer Filmreportage gestoßen war, "destillieren richtig schön die Essenz dessen, was die Stadt für mich ausmacht". Ein "Talent fürs Wegschauen und Unsichtbarmachen" nämlich, wie es aus seiner Sicht "keine andere deutsche hat". Obdachlose und Junkies gäbe es daher selbst am Hauptbahnhof kaum zu sehen. Um sie sichtbar zu machen, also hinzuschauen, setzt die ortsansässige Produktionsfirma Neuesuper nun wie zuletzt im Neoriginal "Breaking Even" auf ständige Darstellung obszöner Gehaltsunterschiede auf engstem Raum.

Im raschen Schnittwechsel trifft Grünwaldvilla deshalb gern auf Plattenbau und Feuertonne auf Gucci. Wird beim Business-Empfang Fingerfood serviert, wühlt nach dem nächsten Cut garantiert jemand im Müll. Und wenn es kapistische Hipster ins Reich illegaler Raves hinabklettern, dann selbstredend über vegetierende Penner mit Hund. Solche Gegensatzpaare der asozialen Marktwirtschaft sind zwar ein bisschen aufdringlich inszeniert; schließlich sind wir hier bei Joyn Plus+, nicht im Kleinen Fernsehspiel. Aber Hand aufs Herz, wertes Feuilleton: kann, ja darf man die Ungerechtigkeit der enthemmten Shareholder Economy zu ordinär darstellen?

Eben…

Deshalb schafft es "Katakomben" oft besser als baugleiche Dramen im Ersten, das gescheiterte Gerechtigkeitsversprechen des Kapitalismus im Technobeat eskapistischer Millennials glaubhaft zu machen. Wenn Privatsender Jugendkultur spielen, ist es im Gegensatz zu ARD/ZDF vielleicht heillos überdreht, aber wenigstens nicht peinlich. Und weil die Serie soziale Gräben erstaunlich souverän entlang privater Beziehungen zieht, ist sie auch nie rührselig, sondern oft rührend und dabei erstaunlich klischeefrei.

Marleen Lohse zum Beispiel überzeugt als sozial engagierte Tochter des Immobilien-Moguls Limberger (Daniel Friedrich) ebenso wie der Influencer Janosch auf dem erkenntnisreichen Weg zum Sinnfluencer, dessen Vater (Michael H. Grimm) bei der Müllabfuhr arbeitet. Selbst die dubiose Polizistin Kaltbrunner (Sabine Timoteo) wird dank ihrer Familientragödie schlüssig. Nicht missverstehen bitte: "Katakomben" ist beileibe kein Meisterwerk – auch wenn sich politische Entscheidungsträger hier (kein Scherz) bei ProSiebenSat.1 und Discovery über die Nachrichtenlage informieren. Aber für diesen Kanal mit dieser Story ist diese Serie verblüffend seriös. Und dabei sehr unterhaltsam.

"Katakomben" ist ab sofort im Premium-Bereich von Joyn verfügbar. 

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