Wir sehen rohe Emotionen. Wir sehen rohe Gewalt. Irgendwie fühlt es sich an, als fehle jeglicher Filter zwischen dem Geschehen auf dem Bildschirm und uns, den Zuschauern. Filter, wie wir sie sonst gewohnt sind, wenn es um TV-Verbrechen geht, etwa in Gestalt von vertrauten Ermittlern, durch deren Brille wir das Böse der Welt betrachten. Es ist verstörend und tut doch gerade deshalb gut, wenn eine Fernsehserie es schafft, uns so unverstellt, so unmittelbar mit Fragen nach der Moral zu konfrontieren. "Schuld nach Ferdinand von Schirach" gelingt genau das - und ist nicht nur deshalb ein herausragendes TV-Projekt. Die sechsteilige Bestseller-Verfilmung darf von vorne bis hinten als Vorbild für einen ermutigenden Aufbruch zum neuen seriellen Qualitätsanspruch gelten - inklusive Programmierung und Distributionsstrategie.



"Die Bereitschaft und der Mut derer, die investieren müssen, hat zugenommen. Weil man endlich merkt, dass durch neue Anbieter und sich ändernde Konsumgewohnheiten die Stimme des Zuschauers lauter geworden ist", kommentierte Produzent Oliver Berben das Aufkommen der neuen deutschen Serienwelle vor einem halben Jahr im DWDL.de-Interview. Jetzt liefert er selbst einen gehörigen Beitrag dazu. "Schuld" ist die konsequente Fortsetzung seiner erfolgreichen Schirach-Verfilmung "Verbrechen" für das ZDF. Wer die Vorgängerserie mochte, wird auch von "Schuld" gefesselt sein. Wem das kunstvoll gestaltete "Verbrechen" ein wenig zu abgehoben war, kommt jetzt besser mit.

Ein deutlicher Fortschritt liegt auch darin, wie das ZDF mit dem Produkt umgeht. Statt sonntags um 22 Uhr wie bei "Verbrechen" läuft "Schuld" vom 20. Februar an freitags um 21.15 Uhr - und damit auf einem lupenreinen, gut eingeführten Serienplatz. Das ist deshalb so wichtig, weil die "hochwertigen innovativen seriellen Programme, die sich anschicken, das Gesicht des Fernsehens zu verändern" (ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler) so vom Rand in die Mitte rücken und langsam, aber sicher zur Selbstverständlichkeit werden könnten. Mindestens ebenso bedeutsam: Alle sechs Folgen stellt das ZDF schon vom heutigen Freitag an - also zwei Wochen vor TV-Sendestart - in seiner Mediathek zum Online-Abruf bereit. Obwohl "Schuld" keine durchgehende Geschichte erzählt, verführt die zwingende Intensität zum Binge-Watching.

"Die Fragen, die 'Schuld' aufwirft, stellen für uns in mehrerlei Hinsicht eine neue, spannende Herausforderung dar", sagt Oliver Berben. "Wir müssen unsere Objektivität aufgeben, müssen Abgründe nicht mehr nur zur Kenntnis nehmen, sondern in sie hineinschauen und müssen akzeptieren, dass Recht und Gerechtigkeit nicht etwa Gegensätze sind, wie der Volksmund es bisweilen annimmt, sondern dass es ohne das Recht keine Gerechtigkeit geben kann. Die Trennschärfe, mit der im TV-Krimi, der Lieblings-Fernsehdisziplin der Deutschen, üblicherweise Recht und Unrecht säuberlich voneinander abgegrenzt werden, wird bewusst außer Kraft gesetzt und der Zuschauer in die Beurteilung der moralischen Fragen direkt eingebunden." 

Den roten Faden in der Produktion der Constantin-Film-Tochter Moovie liefert Moritz Bleibtreu als Berliner Strafverteidiger Friedrich Kronberg - "nur ein Conférencier, der uns durch die Abgründe der menschlichen Seele führt", wie Bleibtreu seine Rolle beschreibt. Im Vordergrund stehen immer die Straftäter und ihre Verbrechen, ihre Motive, ihre Verantwortung. Da ist ein Ehepaar (Devid Striesow, Bibiana Beglau), dessen erotische Abenteuer mit fremden Männern in die Katastrophe führen; ein alter, gebrechlicher Mann (Hans-Michael Rehberg), dem Drogenhandel zur Last gelegt wird und der im Knast rätselhaften Besuch von einer jungen, schwangeren Frau (Aylin Tezel) erhält; ein Schulleiter (Jörg Hartmann), an dessen Internat Illuminaten-Rituale aus dem Ruder laufen; ein Mann (Benjamin Sadler), der seine Frau (Anna-Maria Mühe) über Jahre brutal misshandelt und eines Tages erschlagen aufgefunden wird; ein Obdachlosen-Pärchen (Alina Levshin, Misel Maticevic), das auf einer Verzweiflungstat seine bürgerliche Existenz aufbaut; und die Vergewaltigung einer Volksfest-Kellnerin durch eine ganze Musikgruppe, von der nur ein Musiker unschuldig ist, aber anonym bleibt.

Die Regisseure Maris Pfeiffer und Hannu Salonen inszenieren "Schuld" so, dass das Grauen nicht in expliziten Bildern von Gewalt liegt, sondern im Kopf des Zuschauers, der kaum anders kann als die eindringlichen Schuldfragen für sich selbst zu verhandeln. Ästhetisch hat man sich für das Stilmittel der Langsamkeit entschieden, das vieles nur noch quälender macht. "Das Böse ist ein schneller Begriff, er hat etwas Blitzartiges, ein ganzes Urteil in einem Wort", sagt Ferdinand von Schirach, der Autor der Vorlage. "Strafverfahren sind das Gegenteil. Erkenntnis in der Strafjustiz entsteht nicht durch Geschwindigkeit, sondern durch Zeit, durch viel Zeit." Für "Schuld" sollte man sich Zeit nehmen, es lohnt sich.