Bitte nicht erschrecken, die Welt ist nicht aus den Angeln gehoben worden, sämtliche physikalischen Gesetzt gelten voraussichtlich weiterhin – aber bei RTL II gibt's ab kommendem Sonntag  trotzdem "relevante Themen, renommierte Macher, hochwertigen Journalismus". All das versprechen die Münchner zumindest für ihre neue Reportagereihe "Echtzeit", die meilenweit von dem entfernt ist, was dort sonst so als "Reportage" durchgeht. Gezeigt werden Gesellschaftsphänomene aus Deutschland und aller Welt, die seriös aufbereitet sein sollen und die Zuschauer schlauer machen.

"Wir wollen schon bei unserer Kernkompetenz der eigenproduzierten Reality und Dokusoaps bleiben", beschwichtigte Tom Zwiessler, Bereichsleiter Programm bei RTL II, bei der Vorstellung der Reihe in Berlin. "Aber wir brauchen mehr Facetten im Programm, um nicht zu einer Monokultur zu neigen." Die Reihe will Themen setzen, "die junge Menschen wirklich interessieren". Vor allem aber ist es der Versuch, den ramponierten Ruf des Kanals aufzubessern. Denn der ist da, wo der sendereigene "Trödeltrupp" sonst sein Geld findet: im Keller.

Um ihn da herauszuholen, haben sich die Verantwortlichen mit bekannten Dokumentarfilmern und Produktionsfirmen zusammengetan, dem "Who-is-Who des deutschen Wissensfernsehens", wie Zwiessler sagt. Nicht nur im Inhalt, sondern auch in ihrer Form werden sich die Reportagen drastisch voneinander unterscheiden, weil sie einmal mit Presenter gedreht sind, ein andermal als klassisches Doku-Feature oder als grafisch illustriertes Erklärstück.

"Hoher Preis für billige Klamotten" (Produktion: DocLights) heißt etwa der Film, für den sich Collien Ulmen-Fernandes zwei deutsche Jugendliche geschnappt hat, um ihnen in Kambodscha zu zeigen, unter welch miesen Bedingungen ihre Klamotten dort produziert werden. Die Idee ist gewiss nicht neu, BBC Three hat schon 2008 mit diesem Kniff eine ganze Dokureihe produzieren lassen ("Blood, Sweat and T-Shirts"), auch eine norwegische Zeitung sorgte zuletzt mit einem ähnlichen Projekt für Aufsehen.

Aber erste Ausschnitte lassen erahnen, dass die Moderatorin und Schauspielerin Lust hatte, der Idee für RTL II nochmal einen eigenen Dreh zu geben. Sie schleift die Jugendlichen mit auf eine Demonstration der Näherinnen und Näher und animiert die Protestierenden, sich vor der Kamera direkt an den Hersteller Adidas zu wenden, für den sie herstellen. "Mich hat genervt, dass die meisten glauben, es hätte nichts mit ihnen zu tun, weil sie nicht bei Primark oder Kik kaufen", erklärt Ulmen-Fernandes, warum sie das Thema gereizt hat. "Dabei lassen fast alle großen Firmen einem Billiglohnland Textilien produzieren."

In "Der Darm – dein unbekannter Freund" (Produktion: Bilderfest) lässt der Sender ein Moderatoren-Duo mit einer Kloschüssel durch Berlin reisen, um wildfremden Passanten Details über ihre Verdauung zu entlocken, und fängt testweise Fürze im Marmeladenglas ein – selbstverständlich im Sinne der Aufklärung über das tabuisierte "Superorgan". Für zwei weitere Filme porträtieren sich die Krisenreporter Carsten Stormer und Julia Leeb gegenseitig im Einsatz: im Nordirak an der syrischen Grenze, wo kurdische Kämpfer sich gegen Isis zur Wehr setzen, und auf den Spuren der Rebellen im Kongo. "Krisenreporter – Arbeiten in Krisengebieten" (Produktion: Shinyside Media) soll zeigen, wie die Bilder entstehen, die wir aus der "Tagesschau" kennen, und schildern, wie der harte Alltag der Reporter bei Auslandseinsätzen aussieht.

Noch im Recherchestadium befindet sich Dokumentarfilmer Karsten Scheuren mit "Ware Mensch", einem Film, in dem der Grimme-Preisträger schildern will, dass Menschenhandel nicht nur in China und Indien betrieben wird und Arbeiter nicht nur in Katar beim Bau der WM-Stadien schlecht behandelt werden: "Arbeitssklaven gibt es auch in Deutschland." In der Fleischindustrie, beim illegalen Marihuana-Anbau, sogar im Großstadt-Imbiss um die Ecke. Es geht um Männer und Frauen, die sich nach Deutschland schleusen lassen, um Geld für die Familie zuhause zu verdienen, ihre Ausweise weggenommen bekommen und mitten in Deutschland ausgebeutet werden.

"Es ist wahnsinnig schwer geworden, Einzelthemen im Fernsehen unterzubringen, fast schon ausgeschlossen", erklärt Scheuren im DWDL.de-Gespräch. "Viele Sender sagen: Die Geschichte ist gut – aber kann man da auch eine Reihe mit mehreren Folgen draus machen? Als Autor sucht man deshalb natürlich solche Inseln wie 'Echtzeit'."

Dabei ist noch gar nicht klar, ob RTL II überhaupt so lange durchhält, bis Scheuren einen fertigen Film präsentieren kann. Der Sendeplatz am Sonntagabend ist schließlich hart umkämpft, "Echtzeit" tritt unter anderem direkt gegen "Galileo" auf ProSieben an, das ja auch mit hintergründiger Wissensvermittlung punkten will. Und viele Zuschauer müssen sich erstmal dran gewöhnen, dass der Dokusoap-Sender es plötzlich wieder ernst mit ihnen meint.

Zwiessler erklärt, deswegen nicht nur auf schwere Themen setzen zu wollen: Viele "Echtzeit"-Reportagen seien servicelastig und leichter erzählt. Den Start an diesem Sonntag macht ein RTL-II-gerecht betitelter Film über "Chongqing – Die Megacity der Superlative" (Focus TV), in der kommenden Woche geht es um "Drohnen außer Kontrolle"; wann die anderen Themen folgen, wird kurzfristig entschieden. Die Filme befänden sich derzeit in ganz unterschiedlichen Produktionsstadien. "Unsere Sendeplanung ist da völlig offen", sagt Zwiessler. "Ein Film ist fertig, wenn er fertig ist."

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