Muss die Bundeskanzlerin Angaben darüber machen, ob sie Jan Böhmermanns "Schmähgedicht" über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan selbst gesehen hat, bevor sie es öffentlich als "bewusst verletztend" bezeichnete? Ja - entschied vor wenigen Wochen Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg nach einem Eilantrag des "Tagesspiegels". Das Kanzleramt hatte eine Antwort auf diese Frage stets umgangen und sich dabei auf den unausforschbaren "Kernbereich der Exekutive" bezogen.

Merkel werde in ihrem Handeln eingeschränkt, wenn sie im Nachhinein über die Grundlagen ihrer Entscheidung Auskunft geben müsse, hieß es. Doch jetzt gibt es doch noch eine Antwort: Wie der "Tagesspiegel" am Freitag berichtete, ließ das Kanzleramt mitteilen, dass sich Angela Merkel (CDU) tatsächlich ein eigenes Bild von Böhmermanns Satire gemacht habe. Demnach habe die Kanzlerin das Gedicht bei "Bild.de" zur Kenntnis genommen, ehe sie sich darüber äußerte.

Mit ihrer Wertung war Merkel im Frühjahr 2016 in die Kritik geraten. Später hatte die Kanzlerin eingeräumt, dass die Ermächtigung für Ermittlungen gegen Böhmermann richtig sei, sie sich aber darüber ärgere, das Gedicht als "bewusst verletzend" bezeichnet zu haben (DWDL.de berichtete). Auf diese Weise sei der Eindruck entstanden, dass ihre persönliche Bewertung etwas zähle. "Das war im Rückblick betrachtet ein Fehler", erklärte Merkel.

In einem "Zeit"-Interview hatte später auch Jan Böhmermann Merkels Vorgehen kritisiert. "Die Bundeskanzlerin darf nicht wackeln, wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Doch stattdessen hat sie mich filetiert, einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert und einen deutschen Ai WeiWei aus mir gemacht", sagte der Satiriker damals. Er selbst hatte die Auskunftsklage des "Tagesspiegels" unterstützt