Herr Tobias, in den vergangenen Jahren schien es zumindest im Diskurs über Fernsehen so als wenn alle nur noch Serien sehen wollten. Wie steht es um die non-fiktionale Fernsehunterhaltung?

(lacht) In den letzten Jahren las man viel vom „Golden Age of Television“ im Serienbereich und manchmal dachte ich mir in der Tat: Wir wären mit non-scripted auch ganz gerne dabei! Es gibt doch mehr als Serien, so toll wir sie alle finden. Ich glaube aber, wir können im Free-TV längst einen Shift beobachten, von den fiktionalen zu den non-fiktionalen Produktionen. Zumindest die amerikanischen Lizenzserien spielen längst keine so große Rolle mehr. Stattdessen erleben wir am Vorabend den Erfolg von klassischen Gameshows, in der Primetime Physical-Gameshows und eine neue Welle von Realityshows.



Mit welchem Argument würden Sie einen Serienfan von non-fiktionaler Unterhaltung begeistern wollen?

Der Reiz non-fiktionaler Fernsehunterhaltung liegt in einer wunderbaren Zutat: Charaktere, die es wirklich gibt. Echte Menschen, echte Emotionen. Das hat seine Kraft nicht verloren. Im Free-TV zählen Geschichten aus dem Leben mehr denn je. Da darf es auch mal rauer zugehen, um einen unverstellten Einblick in die Gesellschaft zu erhalten. Wie bei unserem neuen Sozialexperiment „Zahltag – ein Koffer voller Chancen“, welches am Dienstag mit Ilka Bessin bei RTL startet. Und interessanterweise entdecken gerade auch die SVoD-Plattformen non-fiktionales für sich. Prominentestes Beispiel ist der Erfolg von „Queer Eye“ bei Netflix.

Weckt das die Fantasie, auch selbst non-fiktionale Programme für Netflix oder Amazon zu produzieren?

Wenn die milliardenschweren Tech-Konzerne, mittlerweile ja gerne bezeichnet als „FAANGs“ - also Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google - allesamt erklären, in den Inhalte-Markt gehen zu wollen, dann spitzt man natürlich auch in Ossendorf die Ohren. Alles andere wäre ja verrückt. Die Produktionsbranche spekuliert ja schon länger auf die Eroberung der OTTs. Wir sind ganz glücklich, sagen zu können: wir sind im Plattformgeschäft angekommen. Denn wir machen gerade die erste EndemolShine Germany Produktion für Netflix und damit das erste Non-scripted Format aus unserem Hause für die Plattform.

Können Sie dazu mehr sagen?

Netflix startet etwas völlig Neues. Zum ersten Mal launcht der Konzern eine globale Stand-Up Comedy Event Show mit 47 verschiedenen Comedians, in sieben Sprachen und sechs verschiedenen Ländern. Für die Produktion des deutschen Roll-Out ist Netflix auf uns zugekommen und so haben wir in L.A. gepitcht. Offenbar hat unser Konzept überzeugt und es freut mich sehr, dass wir nun mit deutschen Comedians produzieren werden. Die Produktion global startet diesen Monat: in Montreal sowie in São Paolo, Mexico City, Mumbai und Amsterdam wird mit jedem Comedian eine 30minütige Folge aufgezeichnet. Wir gehen Ende August in Berlin in die Aufzeichnungen.

Fernsehen produzieren, mal ohne Quotendruck?

(lacht) Ich bin in meinem Fernsehschaffen immer darauf gepolt gewesen, wie wahrscheinlich alle anderen auch, etwas zu kreieren, das dann zu einer ganz bestimmten Uhrzeit auf Sendung geht. Eine unruhige Nacht inklusive, weil man angespannt auf die Quote um 8.15 Uhr wartet. Das ist bei Plattformen anders. Wir haben da schon Erfahrungen gesammelt, weil wir für Sky1 inzwischen die dritte Staffel „Masterchef“ produzieren. Als Pay-TV-Sender wird der Erfolg der Show nicht am nächsten Morgen in einer Zahl gemessen. Da kommen verschiedene Faktoren zusammen, vor allem wird die zeitversetzte Nutzung abgewartet.

In den USA kommunizieren manche Sender bereits erst die Reichweiten Live+3 oder Live+7. Wäre das was, was Sie sich von deutschen Sendern wünschen würden?

Mir würde was fehlen. Ich mag den Kick. Aber es wird sich verändern und die Richtung ist klar: allein die Betrachtung einer einzigen Zahl verliert stark an Bedeutung, es kommen viele Faktoren hinzu, wie die zeitversetzte Betrachtung oder die Online-Nutzung. Die Zeiten gehen zu Ende, in denen der Erfolg einer Sendung anhand nur einer Ausstrahlung bewertet werden kann. Dazu gibt es mittlerweile zu viele Nutzungsvarianten. Und die weichen Faktoren werden wichtiger: Hat eine Sendung einen Image-Effekt? Ist sie ein Thema in den sozialen Medien? Generiert sie Gesprächsstoff in der Presse? Das ist im immer härteren Wettkampf um Aufmerksamkeit eine Währung für sich.

Konnten Sie sich die Einschaltquoten Ihrer Sendungen eigentlich immer erklären oder gibt es Formate, bei denen Sie das Zuschauerurteil bis heute nicht nachvollziehen können?

Bei den schönen Zahlen konnte ich es immer total gut nachvollziehen. Bei den schlechten Zahlen natürlich überhaupt nicht. (lacht)

Nehmen Sie schlechte Quoten persönlich?

Es schmerzt zumindest, weil man ja nun in den allermeisten Fällen überzeugt davon ist, mit dem bestmöglichen Produkt auf Sendung gegangen zu sein. Wir analysieren die Reichweiten unserer Sendungen in beiden Fällen. Bei Erfolgen muss man ja auch nochmal genau hinschauen: Hat die Sendung gleich zu Beginn interessiert oder erst über die Strecke Zuschauer gewonnen? Oder haben wir welche verloren und wenn ja, wo? Die Kurvenverläufe sind einfach wichtig. Auch die Frage, welchen Effekt die Werbepausen hatten und ob Zuschauer abgewandert oder zugewandert sind.

Sie sprachen vorhin davon, dass non-fiktionale Unterhaltung von ihren echten Akteuren lebt. Im August kehrt „The Wall“ zurück. Die Gameshow sah sich im vergangenen Jahr dem Vorwurf ausgesetzt, völlig überdrehte Kandidaten zu haben. Ist das ein Schuh, den Sie sich anziehen?

„The Wall“ ist eine unglaublich emotionale Gameshow, weil es eine Achterbahnfahrt in Perfektion ist. Was wir beim Casting im vergangenen Jahr nicht erahnt haben, ist, was es in den Kandidaten auf der Bühne auslöst, wenn sie plötzlich vor dieser riesigen Wand stehen. Dass sie dann so aufgedreht haben, hat auch uns überrascht. Es waren starke, temperamentvolle Charaktere, die dann im Hexenkessel von „The Wall“ abgegangen sind. Das fanden wir anfangs auch etwas befremdlich, weil es so „undeutsch“ ist. Aber dann denkt man sich: na gut, so ist es halt. In der zweiten Staffel haben wir jetzt mit den Erkenntnissen der Zuschauerwahrnehmung ein bisschen gegengesteuert.

"Ich habe für mich zumindest die Erkenntnis gewonnen, dass der deutsche Zuschauer bzw. die deutsche Zuschauerin beim Konsum von Fernsehunterhaltung schon ein Grundproblem hat: Das schlechte Gewissen."

Wie steuert man dagegen?

In dem man beim Casting nochmal nach bodenständigeren Kandidaten sucht. Mit dem Wissen, dass die Show - oder konkret diese Wand - ohnehin so viel Aufregung auslöst, kann man anders casten. Um das Spielprinzip überhaupt erstmal zu verstehen, haben wir bei der ersten Staffel mit den Kandidaten auch beispielhaft ein paar Folgen der US-Version geschaut. Das hatte wohl auch inspiriert, derart aus sich herauszugehen. Jetzt bei Staffel 2 haben wir sie einfach auf Buschi und die Wand losgelassen - und mit dem Ergebnis sind wir sehr glücklich. „The Wall“ ist etwas unaufgeregter und stressfreier geworden, was der Spannung angesichts der zu gewinnenden bzw. zu verlierenden Beträge zuträglich ist. Ich würde sagen: „The Wall“ verlässt sich stärker auf „The Wall“.

Was macht eine Unterhaltungsshow denn deutscher? Sie handeln diverse internationale Formate. Wie unterscheiden sich die deutschen Fassungen von anderen Versionen?

Ich habe für mich zumindest die Erkenntnis gewonnen, dass der deutsche Zuschauer bzw. die deutsche Zuschauerin beim Konsum von Fernsehunterhaltung schon ein Grundproblem hat: Das schlechte Gewissen. In einem Land, in dem jeder Krimi noch eine sozialkritische Ebene braucht, muss man sich für Unterhaltung um der Unterhaltung willen scheinbar rechtfertigen. Als Arbeitsgrundlage für Fernsehproduzenten ist die Erkenntnis aber hilfreich, weil es bedeutet: Jede Sendung muss dem Publikum noch etwas mitgeben. Es braucht diesen Mehrwert mit dem die Unterhaltung angereichert wird. Beispiel „Hot oder Schrott“, das wir für Vox produzieren: die britische Version ist schräg, schnell und unterhaltsam. Aber man lernt wenig über die Menschen und noch weniger über die Produkte. Das würde das deutsche Publikum nicht akzeptieren.