"Wir sind so eingenommen von unserer Suche nach Wahrheit, dass wir ganz übersehen, wie wenige überhaupt an ihr interessiert sind." Mit diesen Worten beginnt die Schlusssequenz in der HBO-Serie "Chernobyl" - im Off zu hören ist Jared Harris in seiner Rolle als Professor Waleri Legassow. Nach der Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk in der Nähe der ukrainischen Stadt Prypjat am 26. April 1986 ist dieser Wissenschaftler Teil des Expertenteams und muss die Konsequenzen des durch massive Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften hervorgerufenen, nicht mehr zu bändigenden Leistungsanstiegs von Reaktor 4 bewerten und für Lösungsansätze sorgen. Nicht nur, dass ihm und seinen beiden Vertrauten Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård) und Ulana Khomyuk (Emily Watson) die Zeit wegläuft - bekanntlich macht Radioaktivität keinen Halt vor Mensch, Tier, Umwelt, sowie Landesgrenzen - auch das eigene kommunistische System der Sowjetrepublik hindert am Finden der Wahrheit. Regierung gegen Wissenschaft. System gegen Natur. Vertuschen statt Aufklären.

Bereits sieben Emmys gab es für "Chernobyl" bei den Creative Arts Emmys. Bei den Primetime-Emmys sind zudem alle drei oben Genannten für eine Golddame nominiert. Lars-von-Trier-Liebling Stellan Skarsgård sowie die britische Schauspielerin Emily Watson sogar zum ersten Mal. Jared Harris war bereits 2012 für eine Trophäe nominiert, damals für seine Beteiligung in der ebenfalls historisch ausgerichteten AMC-Serie "Mad Men". Gewinnen konnte er nicht. Ein verbindendes Element zwischen den Serienrollen gibt es trotz der unterschiedlichen Settings und Stimmung: seine Charaktere begehen in den Produktionen Selbstmord. Und beide Male mit einem Strick.

Doch zurück zu den Nominierten der Kategorie: Auf eine Reise zurück in die Vergangenheit mit dem Impetus, mit einer Erzählung nah an die ursprüngliche, wahre Geschichte heran zu kommen, begeben sich alle Serien in dieser Kategorie bis auf eine. Vier der fünf Serien basieren auf wahren Begebenheiten und unternehmen also den Versuch, sich der Wahrheit zu nähern. Die Frage, wie etwas wirklich war, hat leitende Funktion. Aus der Reihe fällt "Sharp Objects" (HBO) mit der ebenfalls zum ersten Mal nominierten Amy Adams. Die Serie ging im Vorfeld übrigens mit den wenigsten Nominierungen an den Start. Der Psychothriller basiert auf dem Debütroman von Gillian Flynn ("Gone Girl") und weist ein fiktionales Fundament auf. Adams schlüpft dabei in die Rolle der Kriminalreporterin Camille Preaker, die wegen des Mordes an zwei Mädchen in ihre Heimat zurückkehrt. Konflikte mit der herrischen Mutter, sowie der Kampf mit eigenen Dämonen und Süchten stellen Problemlagen der HBO-Serie dar.

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Mit "Chernobyl" und "Sharp Objects" gehen am 22. September also zwei HBO-Produktionen an den Start im Kampf um die beste Mini-Serie. Nachdem HBO im letzten Jahr gar nicht vertreten war, gibt es nun doppelte Berücksichtigung. Starke Konkurrenz für das mit den meisten Nominierungen bedachte "Chernobyl" dürfte von der Netflix-Produktion "When They See Us" kommen. Beide eint, dass sie den Finger in die Wunden drängender Gegenwartsprobleme legen. Während "Chernobyl" perfekt ins grüne Zeitalter passt und als Beweis für eine Energiewende fungieren könnte, thematisiert "When They See Us" von "Selma"-Macherin Ava DuVernay die Rassenproblematik in den USA, sowie die darauf basierende systemische Ungerechtigkeit.

Die Netflix-Serie drei Jahre später als "Chernobyl" ein und geht damit zurück ins Jahr 1989. Sie rollt den realen Fall um die sexuell missbrauchte 28-jährige, weiße Joggerin Trisha Meili im New Yorker Central Park auf. Vier afroamerikanische Jugendliche und ein lateinamerikanischer Junge werden dafür zu Unrecht zur Rechenschaft gezogen und zu jahrelangen Gefängnisstrafen verurteilt - vier davon im Jugendknast, der Älteste bekommt die noch härtere Realität des regulären Strafvollzugs zu spüren. Von den überaus zweifelhaften Methoden der "weißen" Staatsanwaltschaft in der Untersuchungshaft, die von Beginn an nicht an der Wahrheitsfindung interessiert ist, sondern lediglich an der (schnellen) Präsentation von "schwarzen" Tätern, über die weitere Ungerechtigkeit des Justizsystems mit einer Verurteilung trotz Fehlen handfester Beweise - quasi die Umkehrung von "American Crime Story: The People vs. O.J. Simpson" - spitzt sich das Drama immer weiter zu.

Wo einem bei "Chernobyl" eine Greta Thunberg in den Kopf schießt, denkt man bei "When They See Us" an die Herausforderungen des Zusammenlebens bei steigender gesellschaftlicher Diversität. Auch das Thema passt perfekt in das weltweit politische Klima - in dieser Form natürlich besonders in das der USA mit einem Präsidenten, der sich zur Zeit des Vorfalls gegen die "Central Park Five" mit einer Werbekampagne zur Wiedereinführung der Todesstrafe stellte und auch als Präsidentschaftskandidat Jahre später noch von der Schuld der Anfang der Nuller-Jahre Rehabilitierten überzeugt war. Die Wahrheit steht so gesehen inhaltlich auch bei "When They See Us" im Weg, es gewinnt abermals das ungerechte System. Und zwar zu Lasten der vermeintlichen Täter, die in dem Fall zu weiteren Opfern werden. Mit einem Zeitsprung klärt die vierteilige Serie über die Schwierigkeiten der sozialen Wiedereingliederung als Folge auf. Zwischen "Black Lives Matter" und der True-Crime-Welle ist "When They See Us" sicherlich eins: ein politisches Statement in der Trump-Ära anhand der Schilderung persönlicher Schicksale einer Minderheit. Und damit abgesehen von stilistischer Fähigkeit ein heißer Anwärter für den Preis.

Bedacht haben die zur Nominierung berechtigten Personen der Academy des Weiteren zahlreiche Mitglieder aus dem Ensemble von "When They See Us". Insgesamt sind acht Personen - Maximum in der Kategorie - auf den Zetteln notiert. Mit Jharrel Jerome, Aunjanue Ellis, Marsha Stephanie Blake und Asante Blackk gleich vier Neulinge. Zum ersten Mal mit dabei im Reigen der Emmy-Nominierten ist auch Benicio del Toro, welchen man auf Showtime in der Serie "Escape At Dannemora" bei einem Gefängnisausbruch begleiten kann. Diese Gefängnisthematik ist im Vergleich zur Netflix-Serie gänzlich anders ausgerichtet. Die wahre Geschichte über die Flucht aus der Clinton Correctional Facility im Bundesstaat New York zweier zu Recht verurteilter Mörder ereignete sich 2015. Hilfe erhielten die von del Toro und dem ebenfalls nominierten Paul Dano verkörperten Schwerverbrecher von der eigentlich verheirateten Gefängnisangestellten Joyce Michell, die mit beiden ein sexuelles Verhältnis pflegte. Mit 20 Kilo mehr auf den Hüften wird diese Rolle in der Showtime-Serie kaum wiedererkennbar von Patricia Arquette eingenommen. Dafür ausgezeichnet wurde sie bereits mit einem Golden Globe. Gut möglich, dass sie der alle Folgen als Regisseur verantwortende Ben Stiller auch für den Emmy Preis verdächtig in Szene gesetzt hat. Falls das nichts werden sollte, wäre sie auch noch als beste Nebendarstellerin bei den Limited Series nominiert ("The Act").

Komplettiert wird das Feld von "Fosse/Verdon", welches das Fähnchen für FX Networks hochhält. Ebenfalls aus der Nähe erzählen will diese Serie, wie das gleichnamige Tänzerinnen-Choreographen-Paar früher denn so wirklich tickte. Nachdem die beiden "American Crime Story"-Staffeln 2016 und 2018 für FX ausgezeichnet wurden, durfte diese mit Michelle Williams (Gwen Verdon) und Sam Rockwell (Bob Fosse) besetzte Produktion ins Rennen gehen. Und was ist eigentlich mit "American Horror Story" aus dem Hause FX? Immerhin zählte die Anthologie-Serie zumindest von 2012 bis 2015 zum Kreis der Erlauchten, auch wenn sie den Preis nie gewinnen konnte. In diesem Jahr gab es das vierte Jahr in Folge keine Berücksichtigung.

Doch 2019 hat dies einen gänzlich anderen Hintergrund. Mit einer nur für dieses Jahr gültigen Regeländerung beschloss die Academy im April, dass drei Produktionen aus dem Feld aussortiert werden sollten. Davon betroffen war auch die achte Staffel namens "American Horror Story: Apocalypse". Da dieses ein Crossover zwischen "Murder House" (Staffel 1) und "Coven" (Staffel 3) darstellt, kam es zur Last-Minute-Regeländerung vor der Nominierung: zu viele fortlaufende Handlungsketten, Charaktere und Schauspieler, die die gleichen Charakterrollen aus vergangenen Staffeln präsentieren, was zusammen genommen nicht mehr zum Label "Limited Series" passt. Als Folge musste sich "American Horror Story" auf das härter umkämpfte Feld der Drama-Serien begeben und zumindest im Jahr 2019 dort antreten. Bei den Golden Globes gewann in diesem Jahr übrigens das schon im letzten Jahr bei den Emmys ausgezeichnete "American Crime Story: Der Mord an Gianni Versace". FX ist also Titelverteidiger bei der 71. Verleihung im Microsoft Theater in Los Angeles.

Platz wird durch das Ausscheiden von "American Horror Story" dadurch auch bei den Personenkategorien. Und wie es der Zufall so will, gibt es auch bei dem biographisch angelegten "Fosse/Verdon" über das beruflich wie privat verbundene Duo eine Jungfräulichkeit zu vermelden. Michelle Williams und Sam Rockwell sind beide zum ersten Mal nominiert, hinzu kommt die ebenfalls zum ersten Mal bei den Emmys auftauchende Margaret Qualley. Im Vergleich zu den schweren Themen um eine Leben vernichtende Reaktorkatastrophe und einen Jugend ruinierenden Justizirrtum dürfte "Fosse/Verdon" als leichte Kost gelten. Die Frage bei der besten Limited Series wird also eher sein, ob sich die Academy für eine Serie mit starker politischer Botschaft entscheidet, oder nicht. Für den Versuch, mit "Chernobyl" oder "When They See Us" näher an die schmerzende Wahrheit heran zu kommen, oder nicht. Professor Legassow schließt in "Chernobyl" mit den Worten: "Wo ich einst den Preis der Wahrheit gefürchtet hätte, frage ich heute nur: was ist der Preis der Lüge?". Im Falle von "Chernobyl" könnte es der Preis in Form einer Emmy für die serielle Entschlüsselung einer Lüge sein. Da sich FX und HBO seit 2013 jährlich abwechseln und letztes Jahr "American Crime Story: Der Mord an Gianni Versace" gewann, wäre mit "Chernobyl" in dieser Hinsicht sogar die Kontinuität gewahrt.