"Dirty Dancing" zeigte den Kids der 80er Jahre, welch Wendung ein Familienurlaub der Upper Class nehmen kann. Am Ende steht dort das Happy End - und zwar sichtbar für alle tanzend auf der Bühne. In ein Urlaubsparadies für One-Percenter jenseits der Catskill Mountains einzutauchen, erlaubt in diesem Jahr HBO mit "The White Lotus". Und dort endet der Urlaub im Luxusressort auf Hawaii am Flughafen mit dem Verladen eines Sargs. Damit für den Spannungsbogen gesorgt ist, sehen die Zuschauenden diesen Akt bei untergehender Sonne bereits zum Beginn der Serie. Die Frage, die einen durch die Serie peitscht wie der immer wieder sichtbare Wellengang ist also: was ist passiert? 

Im Vorfeld mit insgesamt zwanzig Nominierungen behängt, erzählt die HBO-Gesellschaftssatire von Mike White eine ebenso fiktive Geschichte wie der Tanzfilm mit Hüftschwung-Lehrer Patrick Swayze als Johnny Castle und Jennifer Grey als Arzttochter Frances "Baby" Houseman. Dort treffen sich zwei, die finanziell aus verschiedenen Welten kommen. Der Klassenclash fühlt sich jedoch kaum irgendwo softer an als im Urlaub inmitten des Animationsprogramms. Auch bei "The White Lotus" kommen sich Personal und Urlaubende näher: die einen auf intime Art und Weise, andere im Sinne einer Lebenshilfe und wieder andere steigern sich so in ihrem gegenseitigen Hass, dass - analog zu Amber Heard und Johnny Depp - Kot als Waffe auf dem Rachefeldzug eingesetzt wird. Die Tonspur verstärkt dabei durch die immer wiederkehrenden, hypnotisch-tropisch-animalischen Klänge den Sog und schließt sich wie eine Klammer um die Geschichte. 

Doch alles entwickelt sich eigentlich gemächlich und subtil. Nicht nur die Verbindungen, die sich zwischen den Dienenden und seinem Empfängerkreis aufbauen, auch der eine oder andere Konflikt unter den Reisenden. Schlimmer als der Alltag zuhause scheint nur noch der Alltag im Badeurlaub: die falsche, weil nicht beste Suite, die peinlichen Eltern - respektive die als zu woke empfundenen Teens - die Last der Vergangenheit, die in der Mixtur viel Zeit und wenig Aktivität immer härter anklopft. Trotz der die Urlaubsleichtigkeit eigentlich unterstützenden, perfekten Strand-Kulisse in einer Hotelanlage, bei der gewisse Kegelbrüder sicherlich nicht vorstellbar wären, wird klar: auch die Reichen haben Probleme. Und die reisen mit. Im Falle des gleichnamigen Ressorts "White Lotus" werden diese jedoch nicht selten bei der Belegschaft abgeladen und im Anschluss da gelassen wie die unerwünschte leere Cola-Dose am Strand. 

Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Anthologie-Serie die Pole Position unter allen fünf Nominierten einnimmt, sondern auch, dass sie mit acht und damit den meisten Nominierungen für die beste schauspielerische Leistung an den Start geht. Doch eine weitere Sache überrascht, denn "The White Lotus" ist die einzige Geschichte im Feld der Nominierten, die nicht durch historische Fakten gezähmt wird. Alle anderen Produktionen in der Kategorie "Outstanding Limited Or Anthology Series" basieren auf realen Begebenheiten und haben trotz Fiktionalisierung ein gewisses Maß an Faktenorientierung. Ob das Leben sprichwörtlich die besseren Geschichten schreibt, wird in dieser Hinsicht in der Nacht zum 13. Septembers geklärt. Deutlich wird in jedem Fall, dass unfassbare und auch ohne serielle Inszenierung fesselnde Geschichten auf der Straße lagen und aufgehoben wurden. Und damit zurück zum Teilnehmer-Feld. 

Der mit fünf Nominierungen in den Personenkategorien auf dem Papier stärkste Konkurrent neben "The White Lotus" ist die Hulu-Serie "Dopesick". Basierend auf dem Sachbuch "Dopesick: Wie Ärzte und Pharmaindustrie uns süchtig machen" der Journalistin Beth Macy wird in einem beklemmenden Drama über den Beginn der Opioidkrise in den USA vor 40 Jahren erzählt. Ausgangspunkt sind die konservativ-religiösen und von der Härte des Bergbaus dominierten Gebiete um die Appalachen. Dort findet das von der Gesundheitsbehörde FDA unverständlicherweise akzeptierte Schmerzmittel "Oxycontin" des von Familie Sackler geführten Pharmaunternehmens "Purdue Pharma" einen fruchtbaren Boden: Wohnwagen-Atmosphäre, Jim Beam aus der Flasche, Ruß von den Minen und vor allem Schmerzen im Körper. Die Erlösung scheint das neu auf den Markt geworfene und von der Ärzteschaft völlig legal verschriebene Opiat "Oxycontin" zu bringen. Entgegen des Marketingspruchs der Firma, wonach aufgrund der zeitverzögerten Wirkung weniger als ein Prozent von den Tabletten süchtig werde, führt die Verbreitung des Schmerzmittels zu umfassenden Abhängigkeiten, degenerierten Gemeinden und unzähligen Todesfällen, so dass eine in der Serie zentrale DEA-Beamtin konstatiert: "Irgendwann sind wir bloß noch eine Tabletten fressende Zombie-Nation".

"Dopesick" illustriert eindrücklich, wie perfide ein Pharmaunternehmen rote Linien überschritt und wie schwer es ist, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Mit Zeitsprüngen in beide Richtungen wird gezeigt, wie getrieben von der Gewinnmaximierung und Gier der Pharma-Familie, eine Krise nationaler Tragweite entsteht, die sich bis heute auswirkt. Labelmissbrauch, Korruption, Betrug - so lauten nur ein paar Anschuldigungen in einer Reihe von Vorwürfen. Dabei führt das Opiat nicht nur Patientinnen und Patienten in die Sucht, auch die Dollar auf den Konten der Pharmamitarbeitenden haben Anziehungskraft, so dass sich die aus den einzelnen Puzzleteilen zusammengesetzte Spirale immer weiter Richtung Abgrund formt. 

Neben diesem Betrugsskandal aus dem Gesundheitswesen geht mit "The Dropout" (Hulu) bei der 74. Verleihung eine weitere faktenbasierte Serie über eine "missionsorientierte" Hochstaplerin zu Zeiten des florierenden Silicon Valleys an den Start, die diese Branche ebenfalls revolutionieren wollte. Mit nur einem Tropfen Blut zu über hundert Ergebnissen. Klingt gut, war technisch jedoch nicht realisierbar. So wurden Millionen namhafter Investoren im von Elizabeth Holmes gegründeten Unternehmen "Theranos" – ein Kofferwort aus "therapy" und "diagnosis" – verbrannt, immer mit der Behauptung, das entwickelte Gerät zur unkomplizierten Bluttestung würde funktionieren. Das "Fake it 'till you Make it"-Mantra geht jedoch nicht auf und am Ende steht der Fall der vom "New Yorker" als "Heilige" bezeichneten Bio-Tech-Unternehmerin.

Das auf dem gleichnamigen Podcast von ABC News fußende Drama der "New Girl"-Macherin Elizabeth Meriwether lässt auch Amanda Seyfried ins Feld für die beste schauspielerische Leistung eintreten. Mit ihrer Rolle als Stanford-Studienabbrecherin und glühende Steve-Jobs-Nacheiferin Holmes bekommt es Seyfried mit einer weiteren Schauspielerin zu tun, die ebenfalls eine Hochstaplerin verkörpert. Julia Garner porträtiert in der von Erfolgsproduzentin Shonda Rhimes für Netflix gemachten Serie "Inventing Anna" Anna Sorokin, die sich selbst jedoch Anna Delvey nannte. Grundlage der True-Crime bilden Texte von Jessica Pressler, vor allem aber "How Anna Delvey Tricked New York's Party People" aus dem Jahr 2018. Diese gab sich in der New Yorker High Society ziemlich erfolgreich als reiche Erbin aus und hat sich von nicht nur scheinbar, sondern wirklich reichen Menschen Geld und Lifestyle erschlichen. Die gebürtige und in ihrer Jugend mit ihrer Familie in der Nähe von Köln lebende Russin, fiel ebenfalls wie die mittlerweile des Betrugs schuldig gesprochene Holmes ziemlich tief und landete nach dem Erlügen einer viertel Million US-Dollar 2017 zwei Jahre im Gefängnis. 

Die fünfte, acht Folgen umfassende Produktion widmet sich unter dem Dach von Hulu einem ebenfalls realen Vorfall. Bei manchen Serien aus dem Reigen ist die Herkunft ein Motiv für Aufstieg und Fall ("Inventing Anna", "The Dropout"), bei anderen wird verstärkt Ausbeutung aufgrund von Klassenunterschieden ("The White Lotus", "Dopesick") sichtbar. Bei der fünften Serie könnte man diesbezüglich von einem Mix sprechen. Der Kampf David gegen Goliath, beziehungsweise Handwerker gegen Promi. Mit "Pam & Tommy" geht eine Serie ins Rennen, die sich dem illegal verbreiteten Video-Tape mit privaten Sexaufnahmen der "Baywatch"-Queen Pamela Anderson und des Drummers der Glam-Metal-Band Mötley Crüe Tommy Lee widmet. Erzählt wird in der Serie über einen von Seth Rogen gespielten Schreiner des Celebrity-Ehepaares, das sich von diesem einen Lustraum für körperliche Feste zimmern lässt. Der Realisator des Vergnügungsraums wird jedoch rüde geschasst und bleibt für seine Arbeit unentlohnt auf seinen Auslagen sitzen. Getrieben von Rache kommt es zum Diebstahl des Tresors mitsamt des Tapes und der kommerziellen Verbreitung im Anschluss. Der Weg führt dabei von der haptischen Video-Kassette recht schnell ins Internet, so dass man in Bezug auf das Sextape zugleich vom ersten weltweit viralen Hit sprechen kann. 

"Pam & Tommy" ist nicht nur in der Überkategorie nominiert, sondern auch für die besten schauspielerischen Leistung. So taucht Lily James (als Pamela Anderson) neben den beiden oben Genannten auf dem Nominierungszettel auf, ebenso wie Sebastian Stan (als Tommy Lee). Dieser tritt übrigens unter anderem gegen Michael Keaton an, der für seine Rolle als Dr. Samuel Finnix in "Dopesick" bereits den Golden Globe erhielt. Ergänzt werden die Sparten hierbei übrigens auch von Schauspielenden aus dem Bereich Fernsehfilm. Bei den "Creative Arts Emmys" konnte "The White Lotus" bereits mit fünf Auszeichnungen vorlegen - "Dopesick" bekam nur einen. Neben zwei Preisen im Bereich Musik gab es welche für das beste Picture Editing, sowie Sound Mixing aber vor allem erhielt die kürzlich um eine zweite Staffel verlängerte Serie den häufig richtungsweisenden Emmy für das beste Casting. 

Spannend werden auch die Kategorien für die besten Nebenrollen: mit Murray Bartlett, Jake Lacy, Steve Zahn entfallen drei der sieben Plätze auf "The White Lotus". Mit Will Poulter, Peter Sarsgaard und Michael Stuhlberg wurden drei "Dopesick" zugesprochen. Ergänzt wird das Line-Up um Seth Rogen aus "Pam & Tommy". Ein noch stärkeres Übergewicht ist bei den Damen zu erkennen, wobei es hier zum reinen Duell der Serien kommt: fünf Nominierungen bekam "The White Lotus", und zwar für Connie Britton, Jennifer Coolidge, Alexandra Daddario, Natasha Rothwell und Sydney Sweeney. Dem stehen mit Kaitlyn Dever und Mare Winningham zwei Nominierungen für "Dopesick" entgegen. Nicht nur in der Kategorie für die beste Produktion heißt es also Fiktion versus Historie, sondern auch bei den schauspielerischen Leistungen wird die Frage gestellt: dominiert Satire mit dem warmen Sonnenlicht über Hawaii, oder behält die harte Realität mit ihren Skandalen die Oberhand?