Irgendwo in unserem Sprachgebrauch existiert ein unsichtbares Lexikon der Übergangswörter. Hier schlummern Begriffe für Technologien, die nur eine kurze Zeit genutzt wurden, bevor sie innerhalb einer Generation schon wieder überholt waren und aussortiert wurden. Hörspielkassette. Festplattenrekorder. MiniDisc. Homepage. Und bald auch: Mediathek.
In Mainz hat man gerade schon mal mit dem Ausmisten angefangen und die bisherige Bezeichnung des Bewegtbildsammelsuriums endgültig ins digitale Nirwana geschickt. Zumindest fürs Zweite Deutsche Fernsehen ist die "Mediathek" jetzt Geschichte (DWDL.de berichtete). Es bleibt – das ZDF. Mit dem Nutzer:innengruppen unterschiedlichen Alters künftig aber zwei sehr, sehr unterschiedliche Angebote verbinden dürften, die zunehmend weniger Berührungspunkte miteinander haben werden. Obwohl diese Transformation kurioserweise auf der senderinternen Strategie "Ein ZDF für alle" aufsetzt.
Parallelwelt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Das ZDF feiert die Neuaufstellung im Web als gegenwartsnotwendige Verschmelzung: Aus dem einstigen Zusatzangebot, das das lineare Hauptprogramm ergänzen sollte, ist endgültig eine Videoplattform geworden, die nicht nur optisch, sondern auch in der Aufbereitung seiner Inhalte dem folgt, woran wir uns seit Beginn des Netflix-Zeitalters gewöhnt haben: eine schwarze Wand mit 200.000 Kacheln, die ihrem potenziellen Publikum entgegenrufen: SCHAU MICH AN!
Mit allzu vielen Zusatzinformationen will man seine Nutzer:innen offensichtlich nicht belasten; das hat auch prompt für Kritik gesorgt: Die einen suchen sich notwendige Informationen, die nicht oder nur unübersichtlich integriert sind, jetzt im Teletext heraus, andere schauen stattdessen in den Quellcode.
Dabei ist das Bemerkenswerte eigentlich, dass man in Mainz mit dem neuen Web-ZDF vor allem die eigene Persönlichkeitsspaltung vorantreibt: In der Streaming-Variante spielt die langjährige ZDF-Identität "Fernsehgarten", "heute journal", "Aktenzeichen XY" und "Hallo Deutschland" nun fast gar keine Rolle mehr. Stattdessen empfängt der frisch gebackene Public Value Streamer seine Nutzer:innen im großen Vorschaufenster mit der Filmromanze "Freunde mit gewissen Vorzügen", gefolgt von der Gesellschafts-Doku "Ungewollt schwanger", einer "ZDFzeit"-Reportage zum Schuldenpaket und Serien wie "Hacks" und "Like a Loser".
Das Preview-Karussell dreht sich
Im Startseiten-Line-up stand Mitte der vergangenen Woche die Themenwelt "5 Jahre Corona" mit zahlreichen Eigenproduktionen ganz oben; zügig gefolgt von den "Top-Serien zum Streamen" und "Unsere Spielfilm-Highlights" (nicht etwa "Wilsberg" und "Wendland", wie im Linearen – sondern "Fight Club" und "Cash Truck"). Nur die "Livestreams" wirkten zwischen der Duz-Empfehlungsrubrik "Deine nächste Doku", dem "Zeitwende für Europa?"-Schwerpunkt und "Comedy & Satire" etwas verloren. Live – für was nochmal?
Zwischen dem linearen Angebot und seiner digitalen Doppelgänger-Version liegen nicht nur zwei unterschiedliche Bedienkonzepte. Sondern Welten.
Statt Trailern für folgende Sendungen gibt es das Preview-Karussell, in dem Bewegtbilder gleich loslaufen, um ja nicht übersprungen zu werden. Dazu sollen die neuen "Moods" den Nutzer:innen mit drei zentralen Begriffen beschreiben, was für einen Inhalt sie zu erwarten haben, also: "Romance - Film - liebenswert" oder "Comedy - Serie - vergnüglich" oder "Gesellschaft - Reportage - enthüllend" oder "Stars - Porträt - aufschlussreich".
Wie biegsam ist eine TV-Marke?
Statt fester Sendeplätze gibt es nur noch "Rankings", die "junge Inhalte" und redaktionell definierte "Premiumprodukte" bevorzugen.
Und statt klassischer Programmabfolge rücken Algorithmen-getriebene Empfehlungsmechanismen in den Vordergrund – wobei es zur Herausforderung werden dürfte, die auch tatsächlich zum Nutzen der Zuschauer:innen auszuspielen: Im ZDF-internen Magazin "Kontakte" offenbarten die Verantwortlichen für Digitale Produkte und Automatisierung im Bereich Audience kürzlich, dass höchstens zehn Prozent der Zuschauer:innen angemeldet seien, wenn sie ZDF-Inhalte im Web konsumieren – da wird's schwer mit der Personalisierung. (Immerhin stellten "rund 90 Prozent" ihre Cookies nicht aus, vor allem in den TV-Apps, "sodass auch diese ein personalisiertes Angebot bekommen").
Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Wie elastisch kann eine einzige Marke sein?
Eignet sich das ZDF gleichzeitig als cooler Streamer, verlässlicher Informationslieferant und Entertainment-Anlaufstelle für die Generation Pilcher? Oder überdehnt sich eine Marke, die noch aus der linearen TV-Welt stammt (und noch dazu das altmodische Wort "Fernsehen" im Namen trägt), hier bis zur Unkenntlichkeit?
Die anderen brauchen weiter Krücken
Weil das Durchschnittsalter der linearen ZDF-Zuschauer:innen bei 65 Jahren liegt, ist die Flucht nach vorne nachvollziehbar – der Handlungsdruck lässt sich schon seit längerem nicht mehr wegdiskutieren. Und aller Bedenken und möglicher Fallstricke zum Trotz muss man dem Mainzer Content-Powerhouse durchaus Respekt dafür zollen, diesen Weg der gleichzeitigen Markenverschmelzung und -aufsplittung nun so konsequent zu gehen. Vor allem, weil die digitale Metamorphose bei anderen großen Programmveranstaltern deutlich zögerlicher verläuft.
Es haben zwar alle verstanden, dass die Linearität in Zukunft nur noch ein Ausspielweg unter vielen sein wird, wahrscheinlich nicht mal die wichtigste. Sie investieren in Inhalte, die vorrangig für Streaming-affine Zielgruppen gemacht sind. Gleichwohl gibt es für die Markenpräsenz außerhalb des klassischen Fernsehens weiter viele Krücken.
RTL+ trägt das Identitätsproblem schon im Namen: Das "Plus" entlarvt die in Köln erfolgreich positionierte Videoplattform nach wie vor als Add-on. Die ARD klammert sich an den Begriff "Mediathek" wie ein alternder Rockstar an sein Mikrofon – trotz besseren Wissens. (Schon 2022 räumte WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn im DWDL-Interview ein: "Mediathek klingt nicht sexy, nein.") ProSiebenSat.1 wiederum hegt große Ambitionen mit seiner Streaming-Marke Joyn, riskiert damit aber auch das Verschwinden der klassischen Sendermarken, wenn die digital nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.
Form follows Netflix
Dabei gehört die Zukunft zweifellos den Streamern. Anfang 2024 schalteten laut ZDF bereits knapp 40 Prozent der Menschen zum Fernsehen nicht mehr ins laufende Programm, sondern sahen "erst mal irgendwelche Kacheln verschiedener Streamingdienste". Also werden Anbieter wie das ZDF selbst zum Streamer, um in dieser Logik noch vorkommen und bestehen zu können.
Mit zahlreichen Kinderkrankheiten, die überstanden, und Logiken aus der linearen Welt, über überwunden werden müssen. Auf Smartphones präsentiert sich das neue Web-ZDF (anders als auf dem Notebook oder in den TV-Apps für Fire TV & Co.) in der prägenden Hochkant-Logik, setzt dafür extra eine Condensed-Schriftart ein, um die Titel in die Kacheln reingestopft zu kriegen – und scheitert trotzdem. "Freunde mit gewissen Vorzü…" stand vergangene Woche als Aufmacher auf der Starseite, weil mehr da nicht hinpasste. Wenn kein Hochformat zur Illustration hinterlegt ist, besteht die Hälfte des Screens aus Schwarzraum. Und Sendungsnamen müssen in Dreierreihen getrennt werden, ohne dass damit der eigentliche Inhalt angegeben wäre: "auslandsjour- / nal - das Ma- / gazin". Form follows Netflix, sozusagen.
Erfolgreich herbeilobbyiert
Dazu verkündet die Mainzer Technik stolz, dass "80 Prozent der Collections automatisiert entstehen und nicht mehr händisch gebaut werden müssen", während man bei relevanten Themenkomplexen weiter selbst kuratieren will. Gleichzeitig verschwindet mit dem Wegfall des Mediatheken-Begriffs auch die letzte Bastion der Mischinhalte.
Wo früher Text, Bild und Video auf einer Plattform vereint waren, dominiert nun ausschließlich Bewegtbild – so wie es sich die konkurrierenden Verleger stets herbeizulobbyieren versucht haben. Für die Nutzer:innen aber ist das ein Verlust – nicht per se, weil es nun keine "Faktenboxen" mehr gibt. Sondern weil damit die Idee eines öffentlich-rechtlichen Mischportals, das verschiedene Darstellungsformen kombiniert, um Wissen zu vermitteln, Einordnung zu liefern und Vertiefung zu bieten, endgültig Geschichte zu sein scheint.
Ab sofort führt das ZDF ein digitales Doppelleben – und niemand weiß, wie lange die beiden Persönlichkeiten koexistieren können, ohne sich gegenseitig zu verschlingen.
Transformation - Experiment - waghalsig
Oder ob die neue, zeitgemäß scheinende Logik des Public Value Streamers mit linearem Zwillingsbruder dem eigentlichen Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen Genüge tragen kann. Es wäre fatal, würde die Kritik am System zunehmen, wenn verstärkt der Eindruck entstünde, dass sich bei ARD und ZDF um eine Art Gebührengeld-aufgebohrte Film- und Serien-Streamer handeln, an denen halt auch noch ein bisschen Tagesaktualität und Doku-Produktionen dranhängen. In der jetzigen Schwerpunktsetzung ist das zumindest keine irreale Gefahr.
Hilft ja nix: Das ZDF hat in die Zukunft des Fernsehens geschaut und alles auf eine Karte gesetzt: Transformation - Experiment - waghalsig.
Andererseits ist der Drahtseilakt, "Bergdoktor" und Böhmermann unter einer Marke zu vereinen, ja auch bislang schon irgendwie gut gegangen. Möge die Macht der Moods mit Mainz sein!
Und damit: zurück nach Köln.