"Guten Abend, ich begrüße Sie zur 20-Uhr-'Tagesschau'. Zuerst eine Meldung in eigener Sache: Die Erwägung der ARD, ihre Hauptnachrichtensendung auf 30 Minuten zu verlängern, hat zu Unmut in der deutschen Fernsehbranche gesorgt. Andere Sender sind irritiert. Und in den Dritten Programmen denkt man darüber nach, künftig mitten in der Sendung auszusteigen. Alles Weitere erfahren Sie im Anschluss an diese 'Tagesschau' in einem 'Brennpunkt'" …

… hätte Susanne Daubner in der zurückliegenden Woche die von ihr geführte Sendung moderativ beginnen können. Hat sie aber nicht.

Obwohl der "Kamikaze-Plan" (DWDL.de) der ARD-Programmdirektion natürlich mindestens soviel Nachrichtenwert und Brisanz besaß wie so manch anderes Ereignis, das Daubner und ihre Kolleg:innen sonst zur Primetime verlesen.

Denn in Hamburg wurde gerade vorsorglich die stille Revolution geprobt: die 20-Uhr-"Tagesschau" in doppelter Länge – testweise produziert, aber nicht ausgestrahlt. (Obwohl das ja z.B. bei Tagesschau24 kein Problem gewesen wäre.)

Strukturell zu wenig Zeit

Weil das Format bereits seit Jahrzehnten sonderübergreifend den Takt des gesamten Fernsehabends vorgibt, wird die Maßnahme in der Branche – und nicht zuletzt ARD-intern – aufgeregt diskutiert. Derweil herrscht bei einzelnen Fernsehkolumnisten mit DWDL.de-Sonntagskolumne Verwunderung darüber, dass Programmdirektorin Christine Strobl nicht direkt die bereits vor drei Jahren geäußerte Forderung in die Tat umsetzt: "Tagesthemen" auf 45 Minuten verlängern und vorziehen.

Weil darauf ja keiner hört, brauchen wir wohl einen Kompromiss. Denn die Kernthese von damals ist aktueller denn je: Die Hauptnachrichtensendungen der ARD – und die des ZDF genauso – haben strukturell zu wenig Zeit für angemessene Einordnung komplexer Themen.

Während andere europäische Sender mit Public-Value-Anspruch exakt das zu Beginn des Abends priorisieren, stapelt das deutsche 15-Minuten-News unter zusätzliche "Brennpunkte" zwischen gelegentliche "Extras", "Spezials" und "Was nuns?", um spätabends nochmal Vertiefung nachzuschieben. (Was viel zu oft zu Wiederholungen führt.)

Zwei Podcasts, eine gute Absicht

Erstaunlicherweise haben die Sender diesen Mangel teilweise selbst erkannt. Und darauf reagiert: mit der Gründung zweier neuer Nachrichtenpodcasts.

Im Januar startete die ARD "Berlin Code", das die großen politischen Themen der Woche "de-codieren" und für alle verständlich machen soll. Dafür unterhält sich Host Linda Zervakis jeden Freitag eine halbe Stunde mit wechselnden Korrespondent:innen aus dem ARD-Hauptstadtstudio, u.a. zum "Schockstart" der Merz-Klingbeil-Regierung, dem Verfassungsschutz-Bericht zur AfD oder die Mühen des Koalitionsvertrags.

Das ZDF zog Ende Februar mit "heute journal – der Podcast" nach, in dem Host Helene Reiner abwechselnd mit den "heute journal"-Moderator:innen spricht – und viele Fragezeichen mitliefert: "Ins Amt gestolpert: Kann Merz Kanzler?", "Next Stop Autocracy? Noch 1361 Tage Trump?" oder "Was bedeuten Trumps XXL-Zölle für die Welt?"

Vertiefungsambition am falschen Platz

Die Gründe für die Neustarts entbehren nicht einer gewissen Ironie: "Nachrichtenformate liefern uns die wichtigsten Themen des Tages, aber die Zeit ist immer begrenzt", ließ sich Ex-"Tagesschau"-Sprecherin Zervakis zitieren. Man wolle ergänzen, "was die aktuelle Berichterstattung nicht leisten kann". "heute journal – Der Podcast" hat derweil den Anspruch, zu erzählen, "was im Nachrichtenalltag unerzählt geblieben ist".

Ja prima, aber: Müssten das nicht eigentlich die Hauptformate leisten? Anstatt sich weiter ins enge Korsett des linearen Programmablaufs zu pressen, damit danach eine gefühlige "37 Grad"-Reportage über den "Stresstest gemeinsame Wohnung" oder eine x-beliebige "Tatort"-Wiederholung laufen kann?

Mit ihrer Podcast-Vertiefungsambition attestieren sich die öffentlich-rechtlichen Sender selbst, dass ihre Hauptnachrichtensendungen zu wenig Einordnung bieten. Der Tonfall in den Podcasts mag hemdsärmeliger, direkter, weniger staatstragend sein – vielleicht scheut man in den Programmdirektionen auch deshalb davor zurück, das ins klassische Programm zu übertragen.

Wobei all das natürlich auch Qualitäten sein könnten, die den TV-Formaten – zumindest im Einordnungsteil – bislang fehlen.

Allabendlich grüßt das Murmeltier

Gleichzeitig ist das Problem ein Stück weit hausgemacht: Denn das aktuelle System der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen ist zeitweise geprägt von absurder Redundanz.

Obwohl im Linearen sonst um jede Sendezeitminute gekämpft wird, wie ARD-Hauptstadtstudioleiter Markus Preiß in seinem 2024 erschienenen Sachbuch "Angezählt" anschaulich dargelegt hat, doppeln sich nicht nur regelmäßig Filmbeiträge zum Tagesgeschehen in "Tagesschau" und "Tagesthemen". Teilweise werden auch dieselben Interview-Situationen eingeplant: Als die USA und die Ukraine im März Russland zu Friedensverhandlungen aufforderten, wurden Gudrun Engel in Washington und Susanne Petersohn in Kiew erst von Susanne Daubner im Splitscreen für die "Tagesschau" befragt, um sich später nochmal exakt genauso von Helge Fuhst für die "Tagesthemen" interviewen zu lassen.

Tagesschau im März 2025 © Screenshot Das Erste Korrespondentinnen-Interview: Gudrun Engel und Susanne Petersohn mit Susanne Daubner in der "Tagesschau" (März 2025) ...

Tagesthemen im März 2025 © Screenshot Das Erste ... und später nochmal mit Helge Fuhst in den "Tagesthemen".

Und nach der Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Friedrich Merz lieferte Matthias Deiß im Hauptstadtstudio in der zurückliegenden Woche zweimal dieselbe Einschätzung, einmal um 20 und einmal um 22 Uhr – nur halt, dass es Berliner Regierungsviertel im Hintergrund dann schon dunkel war.

Wiederholungen fressen Sendezeit

Diese Wiederholungen fressen Sendezeit. Weil die Sender mit den Formaten unterschiedliche Zielgruppen erreichen wollen – und zunehmend versuchen, alles gleichzeitig zu liefern: Überblick und Einordnung, Korrespondent:innen-Präsenz und Betroffenen-Blickweisen, Schnelligkeit und Tiefe.

Das kann so auf Dauer nicht gut gehen. Vor allem führt es dazu, dass die Formate sich immer ähnlicher werden.

Eine separate 30-Minuten-"Tagesschau" löst keines dieser strukturellen Probleme. Im Gegenteil: Sie schafft neue Konflikte. Zumal ungeklärt ist, was das in letzter Konsequenz für die "Tagesthemen" bedeuten würde. Wo bliebe der Mehrwert, wenn sich schon jetzt so vieles doppelt?

Strobls Vorstoß mag lobenswert sein, weil er alte Gewohnheiten aufzubrechen versucht – aber er ist in letzter Konsequenz nicht richtig durchdacht, weil er viele Fragen offen lässt.

Komplementärer vertiefen

Womöglich wäre es sinnvoller, eine 20-Uhr-Tagesschau", die im jetzigen Format-Ensemble bestehen bleiben soll, wieder stärker zu fokussieren: auf das, was man an diesem Tag wirklich wissen muss – und nur das. Keine Lottozahlen, keine Interviewschnipsel aus Fußgängerzonen, keine Interview-Simulationen: kompromisslos kompakt.

Die "Tagesthemen" müssten als reines, auf mindestens 45 Minuten verlängertes Einordnungs- und Hintergrundformat positioniert werden. Für das, was man an diesem Tag wirklich verstehen muss – und nur das. Das bedeutet: auch ohne den redundanten Kurznachrichtenblock, der sich ja problemlos für die ARD Mediathek aktualisieren und als QR-Code-Link in der Live-Sendung einblenden ließe: Wenn Sie mehr über die anderen Ereignisse des Tages wissen wollen, bitte jetzt mit Ihrem Smartphone scannen.

Würde man richtig revolutionär denken, könnte man versucht sein, dem ZDF zu raten, es genau andersherum zu machen, um maximal komplementär zu senden: ein 45-minütiges "heute journal" direkt um 19 Uhr, um Zuschauer:innen zu erreichen, die sich schon früher nach Vertiefung und Einordnung sehnen. Und ein 15 Minuten kompaktes "heute" für Schnellinformierte ab 21.45 Uhr.

Frischer Wind mit direkterem Tonfall

Womöglich könnte der direktere Ton von "Berlin Code" und "heute journal – der Podcast" auch frischen Wind in die TV-Sendungen bringen: mehr Authentizität und weniger Perfektion sollte im Fernsehen genau so möglich sein – erst recht, wenn dieses zunehmend über Mediatheken und Streaming-Portale gesehen wird.

Die bittere Wahrheit ist: Strobls 30-Minuten-"Tagesschau" um 20 Uhr wäre keine Revolution, sondern ein halbherziger Kompromiss. Die wahre Innovation bestünde darin, den zunehmend ausgelagerten Vertiefungswillen zurück ins Hauptprogramm zu übertragen und klare Zuständigkeiten zu schaffen: Nachrichten-Überblick hier, Einordnung und direkte Ansprache dort. Zu komplementären Sendezeiten.

Nur so können ARD und ZDF ihrer Aufgabe gerecht werden, auch komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen – ohne ihre etablierten Markenidentitäten aufzugeben. Oder gleich die Grundarchitektur des deutschen Fernsehens aus den Angeln zu heben.

Und damit: zurück nach Köln.

"Berlin Code" ist u.a. in der ARD Audiothek zu hören; "heute journal – der Podcast" lässt sich auch über zdf.de aufrufen.