Es gibt eine Dimension, in der ist Sat.1 der unangefochtene König des deutschen Privatfernsehens. In der muss die Programmdirektion nicht alle drei Monate ihr Budget zusammenkratzen, sondern verfügt über einen üppigen Jahres-Etat, um die komplette Konkurrenz in Schach zu halten. Und die selbst aufgebaute Unterföhringer Formatschmiede denkt sich im Monatstakt neue Show-Ideen aus, anstatt niederländische Restposten zu recyceln.

In dieser Parallelrealität läuft zur besten Sendezeit der Musikshow-Hit "Die Neue Deutsche Welle", der explizit gegen den internationalen Mainstream geht und "DSDS" endgültig in die Knie gezwungen hat. Freitags warten regelmäßig über zwei Millionen Zuschauer:innen auf "Deutschlands cleverste Familie", mit dem Sat.1 die familienkompatiblen Abendunterhaltung zum Wochenendstart neu erfand.

"Das große Backen" hat sein eigenes Nachmittags-Imperium – "Das große Kochen", "Das große Basteln", "Das große Gärtnern" – und läutete das erneute Ende der einst so erfolgreichen Gerichtsshows ein.

Blick in die Parallelrealität

Dreimal wöchentlich kommentiert spätabends nach dem Sat.1-"Nachrichtenjournal" Anke Engelke die aktuellen Ereignisse: im bereits 21. Jahr von "Anke Late Night" – und die Amerikaner:innen blicken neidisch auf den deutschen Erfolg. Der von der ARD zurückgeholte Kai Pflaume macht achtmal im Jahr samstagabends "Nur die Liebe zählt XXL" zum TV-Event.

Und Joko und Klaas haben derweil den sendergruppeninternen Wechsel beantragt, weil sie so langsam selbst ins Sat.1-Alter kommen – und der unangefochtene Marktführer längst die höchsten Budgets für clevere Primetime-Unterhaltung besitzt.

Diese Dimension existiert – also: zumindest im Ansatz. Und die ganze TV-Branche hat sie gesehen: einen Monat lang, im August 2025, als sie sich aus Versehen zeitweise mit unserer Realität überschnitt. Es war der Monat, in dem es für Sat.1 so viel Gutes zu vermelden gab, dass man sich die Augen reiben musste, um zu überprüfen, ob das alles wahr sein kann: Top-Marktanteile in allen Zielgruppen, in der Primetime sogar mit deutlichem Vorsprung vor RTL – zum ersten Mal seit 34 Jahren, wie DWDL analysiert hat.

Noch nicht vollständig abgeschrieben

Der Grund dafür ist kein Geheimnis: Anders als die Wettbewerber hat man in Unterföhring antizyklisch ins Programm investiert. Während andernorts Wiederholungen liefen, setzte Sat.1 auf eine Mischung aus etablierten Format-Marken und Neustarts, ohne damit bis zum Spätsommer zu warten.

Ob sich das über die reinen Marktanteile hinaus ausgezahlt hat, ist schwer zu sagen: Vermutlich nicht, wenn man alleine auf die Werbeeinnahmen blickt, die im Sommer traditionell noch etwas weniger sprudeln als sonst – und ohnehin unter der anhaltenden Zurückhaltung vieler Unternehmen leiden.

Aus einem anderen Blickwinkel ist der beschriebene Erfolg aber geradezu unbezahlbar: Weil er nicht nur den Beleg dafür erbringt, dass das Publikum es wirklich belohnt, wenn Sender in frische Inhalte investieren, anstatt sie bloß mit bereits Gesehenem abzuspeisen (mal abgesehen von Spielfilm-Evergreens wie Bullys Manitu-Filmen). Sondern auch die wertvolle Erkenntnis liefert, dass die Zuschauer:innen Sat.1 noch nicht vollständig abgeschrieben haben – so wie es die sonst stetig sinkenden Marktanteil eben auch suggerieren könnten.

Am besten für immer August

Sat.1 hat ganz offensichtlich doch noch den Power of Success. Die kniffelige Aufgabe der Verantwortlichen besteht nun darin, diesen nicht auf die paar Wochen im Jahr zu beschränken, in denen es sich am leichtesten gewinnen lässt, weil die anderen bereit sind, auch mal zu verlieren.

Im Grunde genommen besteht der Job darin, Sat.1 in einen ewigen August zu überführen. Dafür braucht es: mehr Ideen. Und mehr Geld.

Heben wir uns Letzteres kurz auf und konzentrieren uns auf die Programmstrategie, die der seit knapp zwei Jahren amtierende Sat.1-Chef Marc Rasmus vor kurzem im DWDL-Interview umrissen hat (für meinen Geschmack: etwas zu trutschig). Sein Sender stehe "nicht für die größten Abenteuer, sondern für Verlässlichkeit". Aus Sicht der sicherlich von oben bis unten durchgeforschten Hauptzielgruppe sei das Sat.1-Programm "eine Bereicherung, eine Bestätigung, eine Belohnung für den gemeisterten Alltag", weswegen auch "Neues mit Bedacht zu behandeln" sei.

Das mag stimmen – für alle, die man bislang für Sat.1 im Blick hatte. Aber wenn der Sender wieder dauerhaft mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen muss, braucht er auch: mehr Relevanz. Und die kriegt er nicht, indem man Jörg Pilawa einmal pro Jahr eine neue Abendshow moderieren lässt und Matthias Opdenhövel alle paar Monate durch ein neues Lizenzformat jagt.

Rasmus' Pantoffel-Prinzip

Dabei hat Rasmus mit dem Kern seiner Analyse ja vermutlich recht: "Bei langlaufenden, verlässlichen Formaten geht es immer darum, Neues auszuprobieren und den Horizont zu erweitern, ohne dabei die Verbindung zum Vertrauten zu verlieren." Das muss aus Sat.1-Sicht ganz unbedingt die Basis dafür sein, im Markt weiter bestehen zu können. Vor lauter Vertrautem darf man aber auch nicht verlernen, sich was zu trauen.

Immerhin lag man ja richtig damit, einerseits etablierte Genre-Marken und Gesichter zurückzuholen (Bärbel Schäfer mit "Notruf" am Nachmittag) und Neues wie "Die Landarztpraxis" auszuprobieren, die dauerhafte Linderung der chronischen Vorabend-Schmerzen verspricht. (Erst recht, wenn man nächstes Jahr wie angekündigt eine Dependance eröffnet, um den Sendeplatz durchgängig mit der neuen Marke bespielen zu können.)

Am Ende kann Rasmus' Pantoffel-Prinzip – gemütlich, vertraut, keine bösen Überraschungen – allenfalls den Status Quo erhalten (oder im Idealfall leicht verbessern). Genauso wichtig wäre es für das Unterföhringer Nostalgiepummelchen aber, sich mal "Biggest Loser"-mäßig die Sneaker an die Füße zu schnallen – und zwischendurch auch mal loszusprinten, um den Kreislauf in Bewegung zu bringen.

Der Hahn bleibt zu

Die Comebacks von "Der letzte Bulle" und "Kommissar Rex" sind ja schön und gut, insbesondere wenn sich damit der verdammte Finanzierungsproblemknoten lösen lässt, indem man notwendige Fiction-Produktionen gemeinsam mit Partnern stemmt. Aber wenn Rasmus glaubt, dass er alleine mit Nostalgie-Management durchkommt, wird die Euphorie nur von sehr kurzer Dauer sein.

Die bestehende Sat.1-Zielgruppe mag Innovationen gegenüber eher skeptisch eingestellt sein; aber wie sieht es denn mit Zuschauer:innen aus, die man bislang noch gar nicht für sich gewinnen konnte? Was ist aus dem sportlichen Ehrgeiz der 90er geworden, in denen sich die Privaten einander das Publikum streitig zu machen versuchten? Indem man die besseren Ideen hat, die überraschenderen Momente bietet, Stars in ungewöhnlichen Rollen?

Davon schimmert in Unterföhring, wo man sich sehr darauf konzentriert, "nicht alle Hähne auf[zudrehen]", derzeit wenig bis gar nichts durch – auch wenn ja in manchen Genres der Ehrgeiz zu erkennen ist, aufzuholen (siehe "Villa der Versuchung").

Mehr Herz, weniger Excel-Tabelle

Womöglich täte Sat.1 an dieser Stelle ein bisschen italiensiche Emotionalität ganz gut, um die nüchterne deutsche Analytik zu ergänzen; mehr Vertrauen ins Bauchgefühl anstatt auf die nackten Zahlen: Wenn's sich gut anfühlt, machen wir's. Mehr Herz, weniger Excel-Tabelle. Derselbe Drive, mit dem man – sagen wir: nach Berlin reist, um dort dem deutschen Kulturstaatsminister den schieren Standort-Optimismus in die Hand zu schütteln, wenn man sich ins Zeug legt, einen der größten im Land ansässigen Medienkonzerne zu übernehmen, um eine pan-europäische Bewegtbild-Plattform zu bauen.

Zufälligerweise hat der Media-for-Europe-Leadsänger Pier Silvio Berlusconi in der zurückliegenden Wochen genau das getan. Und – bevor er mit seinem der Selbstinszenierung auch nicht ganz abgeneigten Gegenüber sonnenbebrillt für eine jetzt schon historisch zu nennende Foto-Op positionierte – versprochen: "mehr Nachrichten, mehr Unterhaltungssendungen und mehr Fernsehserien – und im Laufe der Zeit weniger zugekaufte Formate".

Was ja – pardauz! – ziemlich genau das wäre, was Sat.1 gerade gut gebrauchen könnte für seinen dauerhaften August. (Also: in erster Linie die sich dahinter gut verbergende Assoziation der zu diesem Zwecke benötigten Budgets.)

Wie ernst es Media for Europe mit den vollmundigen Versprechungen ist, ob die inhaltliche Unabhängigkeit wirklich bestehen bleibt und inwiefern man mit seinen Plänen reüssieren wird, steht zum aktuellen Zeitpunkt zwar noch in den Sternen. Aber als Dehnübung könnte Sat.1 ja schon mal danach greifen – und ein neues Format draus machen.

Und damit: zurück nach Köln.