Wir schreiben das Jahr 18, nachdem erstmals deutsche Prominente vom Fernsehsender RTL in einen von Menschenhand nur durch minimale Kamerainstallationen berührten Primärwald geschickt wurden – oder wie's im Bewegtbildmedium unserer Herzen heißen würde (wenn Sie sich bitte kurz die bebende Stimme von Daniel Hartwich dazu vorstellen mögen): Tag 212 im Dschungel – und nichts ist mehr, wie es einmal war!

Denn, ganz ohne pathetisch werden zu wollen: Fast zwei Jahrzehnte nach seiner Premiere ist "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" in der aktuellen Staffel gleich mehreren Paradigmenwechseln unterworfen.

(Und zwar nicht, weil der "sympathische kleine Themenkanal am Rande von Köln" mit der Dschungelei so viele Zusatzsendeplätze wie nie zuvor schindet.)

Wenn jemand – sagen wir: 2013 prognostiziert hätte, dass ein Jahrzehnt später der frühere Papst eine Falschaussage eingestehen müsste und die katholische Kirche als Lügenverein dastehen würde, während sich der RTL-Dschungel gleichzeitig zum Hüter gesellschaftlicher Werte aufschwänge, weil er eine Teilnehmerin nach rassistischen Entgleisungen konsequent des Waldes verwiese – Sie hätten das doch auch nicht für möglich gehalten, oder? (Obwohl, das mit der Kirche …)

Reality-Stars und "richtige Stars"

Nachdem in der zurückliegenden Woche erstmals eine Dschungelprüfung ausfallen musste, weil es für die geplante Turnerei über einem Abhang zu windig gewesen war, und das Camp daraufhin großzügig mit der vollen Anzahl zu erwerbender Sterne bedacht wurde, fragte Moderator Hartwich: "Hat diese Show Ihren Biss verloren?"

Nein, schlimmer: Sie hat offensichtlich ihren moralischen Kompass entdeckt.

Und das ist noch nicht mal die gravierendste Änderung, mit der "IBES" derzeit klar kommen muss. Schließlich ist der Dschungel inzwischen – vor allem wegen des Tsunamis an Reality-Produktionen, die durch das Programmangebot des Streaming-Ablegers RTL+ schwappen – umzingelt von Formaten, von denen viele genauso drastisch oder dumm sind, wie es der Mutter aller Promiprovokationen über viele Jahre hinweg unterstellt worden ist.

Das hat (zumindest teilweise) auch Einfluss auf das Feld, aus dem "Ich bin ein Star" seine Kandidatinnen und Kandidaten rekrutiert. Und zwar so stark, dass es sogar den Teilnehmenden selbst auffällt. "Ich weiß auch nicht, wie man solche Leute und uns hier zusammentun kann. Richtige Stars und dann diese Social-Media-Leute. Ich weiß gar nicht, wie so etwas geht", wunderte sich Harald Glööckler gerade vor laufender Kamera im Camp, bevor Leidensgenossin Anouschka Renzi kurz vor ihrem tränenreichen ADS-Geständnis im Streit mit ihren Prüfungskolleginnen zur ultimativen Abgrenzung ausholte: "Ich bin wenigstens ein Star! Ihr seid das nicht."

Aber so einfach ist es nicht (mehr). Oder wie Anouschkas Gegenpart Linda erwiderte: „Trotzdem sitzt du jetzt hier mit mir [und hast] dieselbe Dschungelprüfung gemacht, du Star!“

Karrierenachweis? Unnötig

Glööckler und Renzi mögen, ähnlich wie Thron-Konkurrentin Tina Ruland, die Letzten ihrer Art sein. Sie gehören zum Schlag einer alten Dschungelprominenz, die auf die Rote Liste gehört, weil sie im Laufe der Jahre auszusterben droht. Leute, die sich ihre Teilnahmeberechtigung nicht als bekannte Schauspielerin oder bekannter Schauspieler, als Sängerin oder Sänger, Sportlerin oder Sportler erworben hatten, sondern vorrangig durch die Teilnahme an anderen TV-Shows, gehörten zwar schon immer zum "IBES"-Cast. Auch die Krone haben die anderen von Anfang an regelmäßig für sich reklamiert. Aber dieses Mal sind die neuen "Stars" zum ersten Mal in der Überzahl.

Zum Staffelstart hatten Sonja Zietlow und Daniel Hartwich damit kokettiert, dass in einer Umfrage so viele Deutsche wie noch nie angaben, keinen der aktuellen Teilnehmenden zu kennen – und das ist kein Zu- oder Unfall, sondern: schlicht der Lauf der Dinge.

Es kommt, um im "Traumhaus der Stars" mit Schleim zugekippt zu werden oder beim "Schrotto-Lotto" Bekanntschaft mit Grillen, Maden und Superworms schließen zu können, eben nicht mehr darauf an, vorher im klassischen Sinne einer Karriere "richtig was geleistet" zu haben, wie Renzi für sich in Anspruch nimmt; sondern ersatzweise in anderen TV-Formaten mit ausreichend Auffälligkeit zu glänzen, um daraus im Anschluss so wie Jasmin Herren ein Einkommen zu generieren: "Ich kann von Instagram schon leben."

Dieser Wandel lässt sich ignorieren, bedauern oder beklagen – aber nicht mehr ändern, weil sich das Format nach anderthalb Jahrzehnten alle früher im klassischen Sinne als prominent (und ausreichend pleite) geltenden Stars entweder bereits erfolgreich einverleibt oder ausreichend oft vergeblich angefragt hat.

Von der Kunstfigur zum Menschen

Wenn Oliver Pocher irgendwann mit einem angenehm hohen Sümmchen weich gekocht worden ist, werden nicht mehr all zu viele Optionen übrig sein, um jährlich weiter ein zwölf Mann (und Frau) starkes Dschungel-Ensemble zusammenzustellen, ohne es mehrheitlich mit Leuten zu besetzen, denen es weniger auf die Kohle als auf die zweiwöchige Medienpräsenz ankommt, um Zähigkeit zu beweisen und den Wert ihrer Marke zu steigern.

Dadurch verändert sich auch das Wesen der Sendung an sich. Es gibt immer weniger Teilnehmerinnen und Teilnehmer, für die sich das Einschalen lohnt, um sie im wahrsten Sinne des Wortes ungeschminkt zu sehen; es müssen keine Skandale von früher mehr aufgearbeitet werden, weil sich ohnehin niemand behalten kann, woher all die Leute ihre Prominenz reklamieren; die meisten Kandidatinnen und Kandidaten eignen sich nicht mal mehr für die klassische Lagerfeuerbeichte, weil es ja nichts zu beichten gibt, das nicht schon anderswo zu sehen gewesen wäre.

Ein veralteter Prominenzbegriff

Harald Glööckler ist derzeit die Ausnahme dieser Regel, und zugleich Erinnerung an eine Stärke, die das Format über viele Jahre hatte, weil es nur bei "Ich bin ein Star" möglich war, eine sich öffentlich bis ins Detail inszenierende Kunstfigur in den Dschungel zu schicken – und sie dort nach wenigen Tagen zum ganz normalen Menschen mit Stärken und Schwächen werden zu lassen.

Glööckler hat im Camp bibbernd über die Schatten seiner Kindheit erzählt, sich als Zuhörer und Tröster seiner Mitbewohnerinnen und Mitbewohner bewiesen, Zurechnungsfähigkeit und Durchhaltewillen demonstriert und sich mit seiner lange bedingungslosen Loyalität Renzi gegenüber in der Gruppe selbst geschadet – ob das sympathisch ist oder nicht, muss jede und jeder für sich entscheiden. Aber eins steht fest: Der Harald Glööckler in Südafrika ist nicht der Glööckler, den die deutsche Öffentlichkeit bislang kennengelernt hat. Und das ist – fantastisch.

Bei vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist das anders, und womöglich versuchen manche Neue – wie "Bachelor"-Ex Linda Nobat ("Ich halte mich für 'ne interessante Person") – das mit einem erhöhten Maß an Konfliktbereitschaft auszugleichen, während der alte Promi-Adel darüber staunt, wie sich der Reality-Pöbel selbstbewusst unter ihn zu mischen beginnt und die Luftschlösser eines veralteten Prominenzbegriffs wie Seifenblasen zerplatzen lässt.

"Ich mache das seit 35 Jahren", hat Glööckler zwischendurch versucht, sich zu beschweren – aber das hat dem französischen König 1789 natürlich auch schon nix geholfen.

Die Kakerlake unter den Reality-Shows

Inzwischen sind die Adelsprivilegien bei "IBES" alle abgeschafft, das alte System ist in stiller Revolution gestürzt worden, die neue Ordnung längst etabliert. Vor dem von der Palme kackenden Affen im Camp sind ohnehin alle Promis gleich – und das gilt zunehmend auch in der Öffentlichkeit jenseits des Dschungelcamps, für dessen Teilnahme Glööckler ("Ich bin für viele Menschen 'ne Ikone"), wie er erzählt hat, schon vor vielen Jahren angefragt worden ist, um sich mit seiner Zusage anschließend so lange Zeit zu lassen, dass er jetzt die neuen Spielregeln nicht mehr versteht.

(Umso absurder wirkt in diesem Zusammenhang der von Renzi mehrfach wiederholte Vorwurf, alle anderen würden im Camp "nur Show" machen – weil es u.a. ihr Kumpel Harald, der jenseits von Südafrika eine wandelnde Personality-Show ist, ja genau andersherum praktiziert.)

Das Format lernt mit diesem Paradigmenwechsel umzugehen, wie mit allem, was es über all die Jahre auf sich projiziert bekommen hat (begeisterte Gefolgschaft, Ekel, unumkehrbare Ablehnung): indem es sich darüber lustig macht.

Und wenn man betrachtet, wie erfolgreich der Dschungel auch ohne das ganz große Promi-Aufgebot weiterhin ist, scheint ihm das ja auch nicht zu schaden. "Bis Ende nächster Woche blenden wir einfach mal die Welt um uns aus und konzentrieren uns auf unseren 250 Quadratmeter großen Mikrokosmos da unten", hat Zietlow Mitte der Woche in ihrer Anmoderation versprochen – und genau das ist es ja, was sich das Publikum – in diesem Jahr mehr denn je – wünscht. Wahrscheinlich ist "Ich bin ein Star" einfach die Kakerlake unter den Reality-Shows: immer noch da, wenn alle anderen längst schon ausgelöscht sind. Egal, wie schwer es ist, gutes Personal dafür zu finden.

Und damit: zurück nach Köln.

RTL zeigt "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" noch bis zum Samstag täglich nach 22 Uhr, und am Donnerstag bereits um 20.15 Uhr.