Insbesondere nach mehrjähriger Betriebszugehörigkeit können kleine Überraschungen am Arbeitsplatz eine willkommene Abwechslung sein, also haben sich Susanne Daubner, Judith Rakers, Jens Riewa und Thorsten Schröder vergangene Woche von "Tagesthemen"-Moderator Ingo Zamperoni erstmals vor laufender Kamera duzen lassen: "Und nun zu weiteren Nachrichten mit dir, Susanne", "Damit jetzt zu dir, Jens", "Und damit zu weiteren Nachrichten mit dir, Thorsten", "Und jetzt geht's weiter mit dir, Judith". Moment, kurzer Blick nach draußen: Trotzdem ist davon die Welt nicht untergegangen. (Das kriegt die derzeit sowieso ganz gut alleine hin.)

Dabei ist der etwas weniger förmliche Umgangston nicht mal die einzige aktuelle Änderung in der ARD-Spätabendinformation – die ja, wie alle Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen, einen zunehmend schmerzlicher zu praktizierenden Spagat hinzukriegen hat.

Natürlich: Redaktionen und Moderator:innen müssen in allererster Linie dafür sorgen, ihrem Publikum das aktuelle Weltgeschehen mit größtmöglicher Seriosität und Genauigkeit zu erklären. Die Formate sind schließlich nicht nur Aushängeschild ihrer Sender, sondern immer öfter auch Hauptangriffsfläche für System-Zweifler:innen und Kritiker:innen vom rechten Rand. Gleichzeitig sollen die Sendungen modern wirken, ohne mit ihrer Optik vom Inhalt abzulenken. Sie dürfen, wenn sie auch jüngere Zuschauer:innen ansprechen wollen, nicht mehr so steif wie früher sein, aber ohne Ernsthaftigkeit einzubüßen. Und das alles am besten gleichzeitig.

Neuer Vorspann mit Themen-Vorschau

Es ist also eine schier unmögliche Aufgabe, und bei ARD aktuell in Hamburg scheint man sich dafür entschieden zu haben, dieser Unmöglichkeit mit großer Ausgeruhtheit bei der notwendigen Modernisierung zu begegnen: alles Schritt für Schritt.

Angesichts einer starken Ritualisierung der bekannten Formate fallen regelmäßigen Zuschauer:innen dabei natürlich auch kleinste Änderungen ins Auge: Seit einiger Zeit haben die Sprecher:innen der 20-Uhr-"Tagesschau" (obwohl sie schon lange vom Teleprompter ablesen) oft keine weißen Zettel mit dem Sendungsablauf mehr vor sich liegen, sondern Moderationskärtchen in den sich plötzlich bewegenden Händen; und anlässlich des Staatsbegräbnisses der Queen vor zwei Wochen durfte Judith Rakers vermutlich erstmals eine 20-Uhr-Ausgabe nebst Panoramabild beginnen, ohne dabei zur Hälfte hinterm Pult zu verschwinden.

Tagesschau vom 19. September 2022 © Screenshot Das Erste Zur Beerdigung der Queen am 19. September: "Tagesschau"-Beginn im Panorama-Modus.

Die "Tagesthemen" wiederum gönnen sich seit dieser Woche einen neuen Vorspann mit eingeblendeter Themen-Vorschau: Während das noch abgedunkelte Studio in der Totalen zu sehen ist, reißen kurze Schlagwortsätze, die mit fast schon dramatisch klingenden Cello-Strichen unterlegt sind, die gleich folgenden Schwerpunkte an, während im Hintergrund passende Fotos über die Videoleinwand geschoben werden.

Neues Tagesthemen-Intro 2022 © Screenshot Das Erste Die "Tagesthemen" geben seit dieser Woche eine Vorschau auf die folgenden Schwerpunkt-Themen.

Mit der einsetzenden Titelmelodie rückt das App-artige ARD-aktuell-Logo aus der Bildschirmmitte an den unteren Rand, um dort in der vertrauten "Tagesthemen"-Schrift aufzugehen.

Niemand soll mehr im Dunkeln stehen

Anschließend stehen Moderator:in und Sprecher:in nicht mehr wie bisher getrennt an unterschiedlichen Enden des Studios, sondern nebeneinander am selben Tisch, tauschen sich noch kurz gut gelaunt aus und begrüßen die Zuschauer:innen dann gemeinsam: "Guten Abend", sagt Zamperoni – und Daubner: "Auch von mir ein herzliches Willkommen."

Bei ARD aktuell in Hamburg heißt es, mit den Änderungen wolle man die "Tagesthemen" nach und nach nahbarer und weniger staatstragend machen. Der neue Themenanriss zu Beginn der Sendung sei auf ausdrücklichen Wunsch des (regelmäßig befragten) Publikums eingeführt worden, das mehrheitlich gerne vorher wissen wolle, was es in der Sendung erwartet. (Dass die Konkurrenz u.a. vom "heute journal" das ja schon lange ähnlich macht, könnte freilich auch eine Rolle gespielt haben.) Außerdem wolle man keine Sprecherin und keinen Sprecher während des Intros mehr links im Dunkeln stehen lassen.

Und das Duzen? Jeder Moderatorin bzw. jedem Moderator sei freigestellt, wie sie bzw. er das künftig handhabe, heißt es aus der Redaktion. Vielleicht macht's Caren Miosga in der neuen Woche also auch ganz anders.

Raus aus der Virtualität

Wer sich jetzt schulterzuckend darüber wundert, ob es sich überhaupt lohnt, solche Kleinigkeiten zu thematisieren, der sei daran erinnert, dass in der Vergangenheit regelmäßig in den Medien diskutiert wurde, welche Abschiedssätze sich neue "Tagesthemen"-Moderator:innen zurecht gelegt haben. (Ulrich Wickert durfte seinen Klassiker gerade erst wiederholen.) Oder mal ansehen, wie es – auch ARD-intern – für Wirbel sorgte, als die Kommentar-Rubrik in den "Tagesthemen" in "Meinung" umbenannt wurde.

Letztlich sind es, abgesehen von der seriösen Information, eben auch Aufmachung, Bildsprache und kleine Rituale, die das Publikum darüber mitentscheiden lassen, ob sie einer Sendung regelmäßig ihr Vertrauen schenken. Deshalb ist die vollständige Neuverpackung gewohnter Formate immer auch ein Risiko: Viele Zuschauer:innen scheuen Veränderung, erst recht in der täglichen Gewohnheit, über das Weltgeschehen informiert zu werden. Aber schon um nicht hinter dem aktuellen Stand der Technik zurückzubleiben, lässt es sich kaum vermeiden, Studios alle paar Jahre neu zu gestalten – und die Verpackung einer Sendung an die Zeit anzupassen, liegt da nunmal nahe.

So wie bei RTL, das kürzlich mit einiger Verspätung sein neues 360-Grad-Nachrichtenstudio eingeweiht hat, in dem inzwischen alle tagesaktuellen Sendungen Platz finden und ein vollständig neues Design haben.

Keinem anderen Format hat das vermutlich so gut getan wie "RTL aktuell" um 18.45 Uhr, das die riesige Studiofläche von 445 Quadratmetern zwar nicht annähernd benötigt oder bespielen kann. (Es sein denn Ulrike von der Groeben plant demnächst, ihre Moderationsübergabe für den Sport mit einem Flickflack einzuleiten.) Gleichzeitig wirkt das neue Zuhause aber wie eine Befreiung aus der Greenscreen-Virtualität, die zwischenzeitlich die Standardlösung für fast alle Nachrichtenformate im deutschen Fernsehen zu sein schien. (Mit Ausnahme des an der Haptik festhaltenden Ersten.)

Battle der Videoleinwände

In jedem Fall scheinen sich die Zeiten, in denen Nachrichten von auf große Tische aufgesetzten Oberkörpern vorgetragen wurden, nun endgültig dem Ende zuzuneigen. Zu Beginn der Sendung stehen die "RTL aktuell"-Moderator:innen jetzt immer kurz vor dem großen weißen Pult in der Studiomitte: "Guten Abend, es ist viertel vor sieben. Hier sind die Nachrichten von 'RTL aktuell' und den Sport gibt's von Ulrike von der Groeben", begrüßte Maik Meuser in der vergangenen Woche das Publikum – um sich zur Anmoderation des ersten Beitrags dann stets daneben zu stellen, während im Hintergrund die ersten fotografischen Eindrücke zum Thema des Tages auf die gigantische neue Videoleinwand geblendet wurden.

RTL aktuell mit Maik Meuser und Ulrike van der Groeben © Screenshot RTL Zu Beginn der Sendung stehen die "RTL aktuell"-Moderator:innen jetzt vor dem Pult.

Besagte Bildfläche sorgt zwar manchmal dafür, dass man Meuser gerne aus Sicherheitsgründen von der Straße wegholen würde, wenn es so aussieht, als stünde er direkt auf dem ins Studio gebeamten Berliner Ku'damm, um damit den Vorschlag einer Umweltorganisation zu illustrieren, die dieses Jahr auf Weihnachtsbeleuchtung verzichten würde, um Strom zu sparen.

Und mit der durchaus beeindruckenden Neuerung kann man sich in Köln (dreimal zehn Meter = 30 Meter) jetzt gepflegt mit den ARD-Kolleg:innen in Hamburg (16 Meter) battlen – so wie in der vergangenen Woche bei der Frage, wer das Bild von dem in der Ostsee aus den lecken Norstream-Pipelines strömenden Gas am eindrucksvollsten in den Panoramamodus gerückt kriegt.

So sah das bei "RTL aktuell" aus:

RTL aktuell vom 27. September 2022 © Screenshot RTL

Und so bei den "Tagesthemen":

Tagesthemen vom 27. September 2022 © Screenshot Das Erste

An realen Eindrücken orientierte Bildsprache

Gleichwohl hat man in Köln den Vorteil, das Tagesgeschehen dank mehrerer verschiebbarer Videowalls nun völlig jedes Mal neu zu visualisieren, etwa durch die Kombination unterschiedlicher Bildeindrücke zum gerade anmoderierten Thema. Die Einschätzung des Italien-Korrespondenten zum Ausgang der Italienwahl moderierte Meuser diese Woche an, während der Kollege nebendran bereits auf der kleinen Videowand erschien, um wenige Sekunden danach ins Vollbild umgeblendet zu werden.

Man merkt der Regie an, wie sie Lust am Ausprobieren hat, was jetzt alles möglich ist. Gleichzeitig scheint man sich die Prämisse gesetzt zu haben, endgültig von den überflüssigen Bild-Montagen zu lassen, die bei "RTL aktuell" im alten Studioset regelmäßig zum Einsatz kamen – und stattdessen eine neue, an realen Eindrücken des Tages orientierte Bildsprache zu wählen. (Bisschen wie die "Tagesthemen".)

RTL aktuell © Screenshot RTL Im neuen Studioset arbeitet "RTL aktuell" mit erkennbar veränderter Bildsprache.

Das steht der Sendung gut – und verankert sie optisch sehr viel stärker im Hier und Jetzt als bisher. Jedenfalls so lange es gelingt, entsprechend ausdrucksstarke Bilder zu finden und nicht, wie ebenfalls diese Woche, riesige Stempel mit "Gasumlage"-Aufschrift als Quatschsymbol.

Für einen erkennbar anderen Weg hat sich derweil das "heute journal" im ZDF entschieden, das bereits im Juli – gemeinsam mit "heute" – ein neues Studioset samt veränderter Optik erhalten hat. Statt der bisherigen im wahrsten Sinne des Wortes ausschweifenden Holztischlandschaft steht da jetzt ein kleinerer Pult-Bumerang, der sich besser für Direkt-Interviews eignen soll. Gleichwohl hat man in Mainz entschieden, für den Hintergrund weiterhin auf Virtualität zu setzen, weswegen sich die Moderator:innen weiterhin vor einer Greenscreen im nicht-realen Studio-Ambiente bewegen.

Streitbare Ablenkungsfreiheit

Ob man das gut findet oder nicht, mag Geschmacksache sein – aber: man sieht es. Und leider wirkt das "heute journal" durch seine unabschätzbare Raumtiefe oft sehr viel weniger beweglich als die Konkurrenz. Mutig muss man die Entscheidung nennen, während der Moderationen komplett auf Vorillustrationen zu verzichten: Als Christian Sievers sein Publikum in der vergangenen Woche auf den neusten Stand brachte, tat er das in den allermeisten Fällen vor dem dunkelblauen "heute journal"-Grunddesign, das die Kontinente dynamisch mit hellblauen Streifen durchziehen will. (Nur zum Nachrichtenüberblick werden thematisch passende Bilder eingeblendet.)

Diese Ablenkungsfreiheit lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen zweifellos auf das gesprochene Wort – oder halt, und da zeigt sich der Nachteil des Kalküls, auf die knallrote Krawatte von Sievers vor Nussbaumtischambiente.

So fortschrittlich das auch gedacht ist: Dass ein großer Sender wie das ZDF in seinen Hauptabendnachrichten keine eigene Bildsprache hat, ist noch bedauerlicher als die Angewohnheit, Moderator:innen bei Interviews weiter seitlich ins Nichts starren zu lassen, weil Expert:innen oder Korrespondent:innen dort für das Publikum in einem Perspektive vorheuchelnden Fenster eingeblendet werden.

heute journal © Screenshot ZDF Interviewfenster im "heute journal": Huhu, hier ist Brüssel.

("Tagesthemen" und "RTL aktuell" machen das mehrheitlich nicht mehr: Dort werden Moderator:in und Interviewpartner:in im Vollbild mit weißem bzw. schwarzem Trenner in der Porträtansicht ungekünstelt nebeneinander geschnitten; "RTL aktuell" kann Korrespondent:innen wahlweise auch auf eine Videowall ins Studio holen, so dass Moderator:innen sie während des Gesprächs tatsächlich direkt ansehen.)

Die Verlockungen der Eventisierung

Eine Frage, die deutsche Nachrichten-Redaktionen bislang unterschiedlich beantworten, ist: Wie weit kann man gehen, um täglichen Sendungen regelmäßig Besonderheit zu verleihen? Das "Tagesthemen"-Intro mit den Ärzten wird vielen Zuschauer:innen noch lange in Erinnerung bleiben. Das heißt aber ja nicht, dass sich die Mehrheit deswegen eine dauerhafte Fusion mit dem "Rockpalast" wünscht. Und: Ist es eine clevere Idee, Ingo Zamperoni für die Anmoderation des Beitrags über die Nasa-Asteroidenabwehr diese Woche in einen Raumfahrtanzug zu stecken und ihn mit Funkspruchstimme hinter einem 3D-animierten Felsbrocken hervorlugen zu lassen – oder bloß: albern?

Bei ARD aktuell argumentiert man, die Sendung mit solchen sorgfältig dosierten Elementen ein Stück weit für Jüngere öffnen zu können – auch, wenn dafür vermutlich in Kauf genommen werden muss, dass ein paar Ältere sagen: Das bin ich so aber nicht gewohnt. Gleichzeitig wäre es fatal, den Verlockungen einer zunehmenden Eventisierung zu oft nachzugeben.

Es ist eben ein besonderer Spagat zwischen Ernsthaftigkeit und Lockerheit, den Nachrichten im deutschen Fernsehen hinkriegen müssen, um alle zufrieden zu stellen. Wahrscheinlich hilft es, sich dabei zu vergegenwärtigen: Wenn sich die Welt so schnell dreht wie gerade, können die Nachrichten, die das dokumentieren sollen, nicht auf Jahre selbst einfach stillstehen. Oder wie Ingo Zamperoni am Freitagabend in seiner Anmoderation zur Erklärung der Gaspreisbremse" gesagt hat: "Es wird nicht alles neu. Aber vieles anders."

Und damit: zurück nach Köln.