Ukraine-Krieg, Energiekrise, drohende Rezession: Angesichts einer zunehmenden Zahl von Konflikten vertrauen viele Menschen darauf, dass eine höhere Instanz, die sie nicht vollends begreifen können, schon irgendwie den Blick darauf hat, dass am Ende nicht alles komplett den Bach runtergeht. Eine Instanz wie – Barbara Salesch.

Sie ist geboren in Karlsruhe, 72 Jahre alt, ledig, kinderlos, wohnt in Petershagen – und steht hier bitteschön nicht unter Anklage, im Gegenteil. Von Beruf war sie Künstlerin. Bis RTL irgendwann dieses Jahr bei ihr angerufen hat, um sich zu erkundigen, ob sie ihren alten Job als TV-Gerechtigkeitsstifterin wiederhaben will. Seit Anfang September sorgt die aus der Pensionierung zurückgeholte Juristin mit der feuerroten Pumucklfrisur – nach anfänglichem Zögern – deshalb wieder dafür, dass es im deutschen Privatfernsehen ausnahmsweise mal mit rechten Dingen zugeht, so erfolgreich wie eh und je.

Wenigsten das Fernsehen ist ganz das alte

Und während um sie herum alles anders geworden ist, scheint auf den allerersten Blick wenigstens das (Gerichts-)Fernsehen wie früher geblieben zu sein: Überengagierte Laiendarsteller:innen, die sich sogar ein Tränchen aus dem Auge drücken, wenn im letzten Moment ihre Unschuld bewiesen wird, schauspielern sich durch superkuriose Fälle, in denen die absurdesten Tatmotive aufgedeckt werden, während im Hintergrund die leeren Augen der schweigenden Zuschauer:innen Richtung Vollzugsanstaltstapete gerichtet sind, die in der Saalkulisse durchs Fenster glänzt.

"Alle handelnden Personen sind [immer noch] frei erfunden", weswegen die Beteiligten ständig die schillerndsten Ausreden parat haben, wenn gerade verhandelt wird, ob die neue Kita-Leitung von der alten aus Rache fast mit dem Tennisschläger ins Bällebad geköpft wurde, die Tochter ihren Vater um die Ecke bringen wollte, um ans Erbe zu kommen und rechtzeitig in den Malle-Party-Urlaub abzudüsen und die geschenksüchtige Freundin ihren Macker zum Kiosküberfall überredet hat, bevor sie ihn als Callboy im Netz anbot.

Wie das Leben halt so spielt.

Die streitenden Parteien sind meist nicht miteinander "verwandt oder verschwägert", und zwar nach eigener Auskunft: "zum Glück" (wobei uneheliche Söhne trotzdem regelmäßiger auftauchen als im "Traumschiff"). Viele Beteiligte glänzen mit dialektischer Authentizität: "Ich sag Ihnen ganz ehrlich: Dazu kann ich Ihnen nix sagen", bringt es ein Angeklagter auf den Punkt. "Ich fand mich eigentlich gar nicht so aggressiv", rechtfertigt sich ein anderer. Und der dritte hält ein mitreißendes Plädoyer für die Unschuld: "Leute, ich war's wirklich nicht."

Ironiescharmützel in der Pappkulisse

Wie könnte man dem nicht Glauben schenken? Außer natürlich, man steckt in der Robe des zynischen Oberstaatsanwalts Bernd Römer, der nicht nur Angeklagte und Zeugen anheischt wie ein über die Paragrafen durchs Strafgesetzbuch turnender Sportlehrer, damit die sich endlich mal bewegen ("Ihr Vater ist quasi blind, aber nicht quasi dumm!"). Sondern sich auch regelmäßig Ironiescharmützel mit den ihm gegenüber sitzenden Strafverteidiger:innen liefert, um zum Schluss auch mal trocken einen läppischen Irrtum einzugestehen: "Ein Komplott – das kommt vor."

Vor allem Salesch ist aber nicht zu beneiden, sich zusätzlich zur allgemein unerfreulichen Nachrichtenlage werktäglich auch noch am laufenden Band Entführungen mit räuberischer Erpressung, versuchte Morde und gefährliche Körperverletzungen zumuten zu müssen, also: zumindest in der Nacherzählung.

Wobei es natürlich auch seine Vorteile hat, nach zwölf Jahren und 2147 Folgen als TV-Richterin ein ganzes Jahrzehnt Pause gemacht zu haben, denn: Dem technischen Fortschritt sei Dank gibt es plötzlich völlig neue Möglichkeiten, das notwendige Beweismaterial für all die fiktiven Auseinandersetzungen beizuschaffen, weil wir alle ja quasi ständig unter Beobachtung stehen.

Praktisch: aus Versehen mitgefilmt

Ständig wird jemand "von der Überwachungskamera aufgezeichnet – macht man ja so heutzutage", selbstverständlich auch in der heimischen Küche; ohne Unterbrechung rieseln Standortdaten vom Handy oder vielsagende Whats-App-Chat-Verläufe auf den Saalmonitor, zufällig per Smartphone aufgenommene Drohungen, belastende Dialoge aus der heimlich mitgeschnittenen Videokonferenz – das riecht doch nach späterer Bonusverurteilung wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen! Und wenn alle Stricke reißen, gibt's plötzlich "Aufnahmen aus 'nem Reiseblog, der zufällig alles mitgefilmt hat"; oder der Herr Staatsanwalt beauftragt seine Assistentin, mal nach belastendem Bildmaterial zu schauen, das vorher praktischerweise bei Facebook hochgeladen wurde, der Heimat des belastendem Bildmaterials.

Mit diesen Mitteln wird auch die Aufklärung der verschachteltsten Fälle zum Kinderspiel, zumal sich "Währenddessen vor dem Gerichtssaal" die Haushälterin schon superverdächtig gemacht hat, als plötzlich ein Beweismittel in ihrer Handtasche verschwand, und der bislang ungehörte Vater mit der neuen Kita-Leitung im Clinch liegt, das wird sicher gleich noch von Bedeutung sein.

Früher oder später gibt immer irgendwer die Bestechung, das falsche Alibi oder den Überfall mit der Spielzeugpistole zu.

All das hat "Barbara Salesch" zum Yps-Heft unter den werktäglich gesendeten TV-Shows gemacht: Eigentlich weiß man vorher schon ziemlich gut, was drin sein wird – aber am Ende ist's trotzdem immer wieder eine Überraschung. Und deswegen so trostreich, weil Salesch als Urzeitkrebs moralische Autorität über allem schwebt, um ihr Publikum weise aus den menschlichen Abgründen hinauszuführen, in die es vorher von RTL reingeködert worden ist.

Sie sind mir auf die Nerven gegangen

"Gerichte verstehen keinen Spaß bei Falschaussagen", erinnert sie den Angeklagten belehrend. Und: "Dass man bei Gericht die Wahrheit sagen muss, wissen Sie." Manche Spitze mag sie sich nicht verkneifen: "Mein Mann nervt hin und wieder", sagt die Zeugin – und Salesch: "Das kann ich mir vorstellen." Oder: "Wenn ich ganz ehrlich bin, sind Sie mir eine Weile auf die Nerven gegangen." Salesch wundert sich: "Heutzutage kriegt man ja alles bescheinigt, ne?" Und passt auf, dass keine übertriebenen Sprachbilder ihren Saal verlassen: "Da können Sie Gift drauf nehmen." – "Gift nicht, aber ich vertraue darauf."

Die allermeisten ihrer Sätze könnte man in einen Generator einspeisen, der dann zu jeder Gelegenheit des Lebens einen passenden Barbara-Salesch-Kommentar abgeben würde.

Sie gibt sich modekritisch: "Ich hab ein kleines Problem mit Menschen, die Sonnenbrillen tragen." Und: "Normalerweise nimmt man seine Mütze ab, wenn man zu Gericht reinkommt." Oder traut sich auch mal ein persönliches Urteil loszuwerden: "Wenn ich Frauennamen höre, werde ich interessiert." Und: "Ich kann's gar nicht gut leiden, wenn jemand seine Finger nicht bei sich behält." Und: "Ich kann heulende Frauen nicht ausstehen."

Ihre Unanfechtbarkeit und ihr Alter gestatten ihr, auch eigene Laster einzuräumen: "Ich pflege in meinen Verhandlungspausen zu naschen – alte Sucht. Während ich meine zwei Pralinen esse, telefoniere ich aber auch gerne."

Wahrheit, Schweigen, Philosophie

Aufbrausenden Gemütern entgegnet sie: "Wir Juristen wollen uns das in aller Ruhe ansehen." Und wird bisweilen fast philosophisch: "Wahrheit – Schweigen. Was anderes gibt es nicht."

Gleichwohl ist sie von erfrischender Direktheit, wenn sie etwa feststellt: "Das ganze Ding ist ein Verbrechen!" – "Zuhälterei vom Feinsten war das!" – "Sie sind schon von aufbrausender Natur." – "Das ist eine Entscheidung, die SIE nicht zu beurteilen haben." – "Ich kann Sie auch durchsuchen lassen." – "Heulen können Sie später." Dennoch lässt sie es nicht an Verständnis für jene fehlen, die sich in misslicher Lage erklären sollen: "Von irgendwas muss man die Miete ja bezahlen, ne?" Oder: "Sie wollten Sex! Wo ist das Problem?"

Salesch weiß die Realität an den Hörnern zu packen: "Absprache unter Zeugen – da haben auch Gerichte nicht so furchtbar viele Chancen." Und staunt fast kindlich über die Mysterien des Fortschritts: "Die Sprache der Reiseblogger ist eine Sprache für sich." – "Ich hab hier vorne so Bluetooth, was Neues, da braucht man gar keine Kabel mehr." – "Fliesenleger: endlich mal'n realistischer Beruf. Sonst hab ich's ja inzwischen mit Internet zu tun von oben bis unten." Denn, hilft nix: "Wir schreiben das Jahr 2022."

Mit erhobener Stimme

"Was Sie erlebt haben, das muss man nicht haben", reagiert Salesch, wenn Unbill von ihrem Gegenüber abgewendet wurde, weil im letzten Moment noch vielsagende Aufnahmen aus der im Kuschelteddy versteckten Videokamera mit Bewegungssensoren aufgetaucht sind.

Sie weiß ihre Stimme zu erheben, um Verdächtigte zur Wahrheit zu bekehren: "Wo sind die 100.000?", fragt sie den Erpresser mit Nachdruck. Mit angespitzer Stimme informiert sie: "Ich lade meine Zeugen selten aus sportlichem Vergnügen, sondern weil ich sie hören will." Und wendet sich augenrollend an ihren Stellvertreter: "Herrgottnochmal, lass Hirn regnen." – "Ich würde es gerne anders bezeichnen, aber meine Höflichkeit hält mich zurück. Das ist eine UNVERSCHÄMTHEIT", urteilt sie. Sie erkundigt sich ungläubig: "Haben Sie das sexy Negligé aus Seide mit feinster Spitze für 340 Euro aufgerundet wirklich gekauft FÜR IHRE MUTTER?" Und brüllt, bei besonders schweren Verfehlungen: "TICKT's NOCH?!"

Zum Schluss geht's immer schnell: Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil, "einen Beschluss verkünde ich grundsätzlich im Sitzen", kurze Moralpredigt, Abspann. Für RTL ist es ein sensationeller Erfolg im Nachmittagsprogramm zum Preis eines Vormittagsformats.

Ein kleines bisschen gerechter

Und vielleicht sollte die bislang weniger erfolgsverwöhnte Ampelkoalition mal überlegen, ob Salesch nicht auch die richtige Vermittlerin wäre, um die gerade auseinander bröckelnde Regierung noch zu retten – alleine schon, weil man natürlich gerne sähe, wie Robert Habeck nach seinem ohnehin sensationellen "Tagesthemen"-Interview noch ein paar unüberlegte Worte in die weiterlaufende Kamera sagt, der Verkehrsminister sich "Vor dem Plenarsaal" unerwartet verdächtig macht, ein heimlich im Einstein mitgeschnittenes Video Christian Lindner in Bedrängnis bringt und der Kanzler sich am Ende auf Saleschisch anhören darf: "Sie haben's letztlich verbockt."

Die eigentliche Stärke von "Barbara Salesch" ist: Dafür zu sorgen, dass sich eine schon von zahlreichen Missständen gesäumte Welt nach Bereinigung der im TV-Pappgerichtssaal zusätzlich hinzu erfundenen zumindest ein kleines bisschen gerechter anfühlt.

Also wagen Sie es nicht, gegen diesen Text Rechtsmittel der Revision einzulegen, binnen einer Woche ab heute. Die Kolumne ist geschlossen.

Und damit: zurück nach Köln.

Barbara Salesch wurde wegen anhaltenden Erfolgs und guter Quoten zu einer lebenslänglichen Sendedauer im RTL-Nachmittagsprogramm verurteilt (werktäglich ab 15 Uhr). Kolumnist Schader musste sich wegen Anstiftung zur Kolumniererei vor TV-Gericht verantworten und akzeptierte die Ansicht von 200 Sozialstunden "Küchenschlacht" auf Bewährung.