Ohne lange nachzudenken: Was sind die größten Stärken des Fernsehens? Unterhaltung natürlich, auf jeden Fall Information – und vielleicht noch, dass es seinem Publikum den Blick in fremde Welten ermöglicht. Aber Inklusion wäre Ihnen jetzt vermutlich so schnell nicht eingefallen, oder? Den allermeisten Fernsehmacher:innen ginge es bislang wahrscheinlich ähnlich.

Das hat sich gerade schlagartig geändert. Und ist ziemlich großartig.

Gleich zwei Sender zeigten in den vergangenen Wochen Dokumentationen, in deren Mittelpunkt eine Gruppe von Menschen mit Besonderheit standen: Bei "Down the Road" im SWR begleitete Ross Antony sechs Teilnehmer:innen mit Down-Syndrom auf einem Abenteuerausflug durch Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das benachbarte Frankreich; und Vox zeigte in "Zum Schwarzwälder Hirsch", wie Koch Tim Mälzer und Schauspieler André Dietz als Mentoren eine Gruppe junger Leute mit Trisomie 21 zusammenschweißte, damit sie gemeinsam ein Restaurant zu leiten im Stande sind.

Eine der besten Sendungen des Jahres

Beide Dokus liefen nicht versteckt auf irgendwelchen Spätsendeplätzen für Problemreportagen. Sondern gut sichtbar fürs Publikum zur allerbesten TV-Zeit um Viertel nach acht.

Und selbst wenn die Einschaltquoten – trotz achtbarem Erfolg – jetzt nicht unbedingt in "Wetten dass..?"-Dimensionen empor geschnellt sind, hat das deutsche Fernsehen wahrscheinlich noch nie soviel dafür getan, Menschen mit Besonderheit als essenziellen Teil seines Programms zu begreifen, wie in den vergangenen Wochen. Weil: warum denn auch nicht?

Dass Vox in diesem Zuge noch eine der wahrscheinlich besten Sendungen des Jahres produziert hat, kommt hinzu – denn nichts anderes muss man "Zum Schwarzwälder Hirsch – eine außergewöhnliche Küchen-Crew und Tim Mälzer" trotz des sperrigen Titels zugestehen. Das hat mehrere Gründe, und der vielleicht wichtigste ist, dass die Produktion von Vitamedia Film (mehr zu den Dreharbeiten steht hier bei DWDL.de) eines der unterrepräsentiertesten Talente des Mediums für sich ausspielt: Sie hat eine eindeutige Mission, die von der nachvollziehbaren Überzeugung getrieben wird, dass jeder Mensch dazu lernen kann. Warum sollte das mit Chromosomenanomalie anders sein?

Fernsehen, bei dem es wirklich um was geht

Von Anfang an macht die Vox-Doku ihrem Publikum klar, beweisen zu wollen, dass die Gesellschaft Menschen mit Down-Syndrom nicht in Werkstätten versauern lassen sollte, um sie dort Pappen schneiden zu lassen. Sondern ihnen Aufgaben zutrauen, die sie vom Stempel "nicht ausbildungsfähig" befreit – zumindest jene, die es sich so wünschen.

Oder wie eine der "Hirsch:innen" zwischendurch beim Feierabend-Schnack am Lagerfeuer sagte: "Ich will raus in die Freiheit."

Auf dem so genannten ersten Arbeitsmarkt wird das aber die allermeiste Zeit noch anders gesehen, und "Zum Schwarzwälder Hirsch" hat sich nichts Geringeres zum Ziel gesetzt als den Beweis des Gegenteils anzutreten. Es ist ein Fernsehen, bei dem es wirklich um etwas geht, bei dem der Hauptgewinn keine Geldsumme und kein Auto ist, sondern die Chance, festgefahrene gesellschaftliche Überzeugungen zu überwinden.

Zusätzlich getrieben wird die Produktion davon, dass vorher fast alle sagen, wie schwierig, wenn nicht sogar unmöglich das Vorhaben ist – selbst einzelne Leute aus den eigenen Reihen! Vielleicht hat es genau deswegen geklappt: 13 Menschen, die im Berufsleben bislang keine Chance gehabt hätten, haben in drei Monaten gelernt, ihr eigenes Restaurant zu führen: in der Küche, im Service, an der Bar. Mit Einschränkungen. Aber die Gäste, die da waren, hatten eine richtig gute Zeit. Und das Fernsehpublikum das Glück und die Ehre, diesen Entstehungsprozess begleiten zu können, mit all seinen Höhen und Tiefen.

Zeit, um Protagonist:innen kennenzulernen

Das vielleicht Außergewöhnlichste war, dass das Format seinen Zuschauer:innen Zeit gelassen hat, seine Protagonist:innen wirklich als Menschen kennenzulernen – nicht als solche mit Beeinträchtigung, sondern ganz im Gegenteil: als Individuen mit sehr konkreten Vorstellungen, Träumen und Überzeugungen.

Sophia Marie, Leon, Laura, Jan und Jan, Tanino, Ayla-Marie, Lara, Tobias, Paula, Nicola, Simeon und Sarah mögen im Alltag mit anderen Herausforderungen zu kämpfen haben als ihre Mitmenschen: schnellerem Leistungsabfall, einer mit ihrer Besonderheit einher gehenden Zahlenschwäche, unterschiedlicher Konzentrationsfähigkeit und anderer emotionaler Stabilität.

Aber darin bestand ja die Aufgabe von Mälzer und Dietz als Vorsteher des Küchen- und Mentor:innen-Teams: das mit Struktur, Verlässlichkeit und klaren Regeln aufzufangen – aber auch Warmherzigkeit, Verständnis, Spontaneität, Lob und Vertrauen. Oder wie's Mälzer einmal zwischendurch formulierte: "Normalerweise werden Menschen mit Beeinträchtigung dort eingesetzt, wo sie am wenigsten falsch machen können – wir wollen gucken, wo sie am meisten richtig machen können."

Das ist mehr als gelungen – und zwar auch, weil die Verantwortlichen, als das Experiment in seinem Verlauf mehrmals an den Rande des Scheiterns geriet, die Schuld dafür nicht ihren Schützlingen auflasteten, sondern bei sich selbst suchten.

Genervt, müde und frustriert

"Ich war genervt, ich war müde, ich war frustriert", bilanzierte Mälzer nach dem Chaos an Tag eins, als das Stresslevel zu hoch pegelte, weil die Gruppe zu früh zum Kochen geholt wurde. "Wenn hier Fehler passiert sind, liegt das nicht an euch", versicherte Dietz der Gruppe nach dem großen Kartoffelsalat-Desaster. Und als der Eröffnungstag vor lauter Druck fürchterlich schief ging und man als Zuschauer:in furchtbar mitlitt, saß Mälzer nachher auf der Bank und gestand: "Wir haben die so überfordert, dass ich mich schlecht dabei fühle."

Diese permanente Reflexion der Verantwortlichen – eine Seltenheit im deutschen Fernsehen – hat letztlich dazu geführt, dass man dem beim anschließenden Problemlösen zuschauen konnte: "Zum Schwarzwälder Hirsch" hat die Gastronomie für ihre Mentees, wie angekündigt, "auf links" gedreht.

Um Speisen in gleichbleibender Qualität zubereiten zu können, wurden Rezeptbücher mit Bildern entwickelt – und dann nochmal neu, als klar war, dass die alten nicht funktionierten. Um die unnötig komplizierte Bedienung auf der Terrasse zu vereinfachen, wurde ein einfacheres Tischsystem konzipiert, die Getränkeauswahl verkleinert und Speisekarten zum Ankreuzen angeschafft. Die völlig in die Hose gegangene Eröffnung wurde nochmal nachgeholt – mit viel weniger Druck und ferngesteuerten Kameras, damit nicht noch mehr Leute dazwischen wuseln, die alles durcheinander bringen. Auch fürs Bezahlen hat sich eine Lösung gefunden: Mit der von den Hirsch:innen gestellten Frage "Können Sie mir bitte beim Abkassieren helfen?" wurden kurzerhand die Gäste mit eingespannt. Am Ende waren fast alle zufrieden.

Den üblichen Reflexen des Genres widerstanden

Insbesondere kann sich "Zum Schwarzwälder Hirsch" damit rühmen, den üblichen Reflexen des Reality-Doku-Experiments widerstanden zu haben: nämlich Charaktere immer wieder auf Versäumnisse ihre Vergangenheit zu reduzieren (wie das in anderen Formaten durchaus weiter gehandhabt wird) und Krisen noch größer zu machen als sie es ohnehin schon sind, um dem Drama fernsehgerecht einen extra Spin zu geben.

Das brauchte es auch gar nicht, weil das Format die meiste Zeit über ganz bei sich war – und vom Sender die Freiheit hatte, seine Erzählung nicht auf eine ganze Staffel strecken zu müssen. Sondern einfach in drei Episoden das Wichtigste zu erzählen, ohne sich permanent wiederholen zu müssen – angefangen vom Abschied von den Eltern übers Kennenlernen und die Zusammenführung zum Team bis zu Eröffnung und Betrieb des Restaurants.

Dass Mälzer ("Eigentlich mach ich 'nen Kochkurs in 'ner anderen Sprache") und Dietz ("Eine Chance, nicht perfomt, aussortiert, zack, Ende – das wollten wir doch anders machen") die Ereignisse separat voneinander kontinuierlich einordneten, ohne sich dabei immer einig sein zu müssen, war ein großes Glück. Weil man von Dietz' ehrlicher Empörung darüber, dass Menschen mit Besonderheit oft zu wenig zugetraut wird, förmlich mitgerissen wurde. Und natürlich, weil man dem prominenten TV-Toberich Tim Mälzer dabei zusehen konnte, wie er sich erst darüber bewusst wurde, dass seine Hopplahopp-Art bei diesem Projekt so gar nicht funktionieren würde – um dann so ruhig, weise und reflektiert durch die selbst gestellte Aufgabe hindurch zu gleiten, wie man ihn im Fernsehen bislang noch niemals hat sehen können. 

(Aber gerne öfter würde, weil ihm die Herzlichkeit und der Humor im Umgang mit den Kandidat:innen durchaus gut steht.)

Euphorie trifft Wirklichkeit

Dass Ross Antony seine ihm immanente Aufgeschlossenheit bei "Down the Road" hervorragend würde einbringen können, war hingegen von vornherein klar – und dass die Gruppe ihn prompt als "Papa im Herzen" akzeptierte, dementsprechend keine Überraschung. Trotzdem muss man das erstmal so souverän hinkriegen: Beim Campen mit dem 25-jährigen Julius über dessen Coming-Out und das eigene zu reflektieren und in Momenten der Schwäche immer wieder als Tröster aufzutreten und zu versprechen: "Das ist euer Moment!"

Auch in "Down the Road" geht es um was: darum, zu zeigen, dass man auch mit Chromosomenanomalie ein Recht darauf hat, an der Zipline einen halben Kilometer durch die Baumwipfel zu sausen und dabei einen Riesenspaß zu haben. An die Intensität des Vox-Pendants mit seiner noch viel klareren Mission kommt die in erster Linie heitere SWR-Produktion zwar nicht heran; das muss sie aber auch gar nicht, um zu funktionieren.

Weil "Zum Schwarzwälder Hirsch" relativ abrupt endet und Dietz noch eilig aus dem Off erzählen muss, wie es den Teilnehmer:innen nach Ende der Dreharbeiten erging, geht ein bisschen unter, dass die vorher verbreitete Euphorie dem Zusammentreffen mit der Wirklichkeit nicht in allen Fällen standgehalten hat: manche "Hirsch"-Absolvent:innen arbeiten doch wieder in der Werkstatt. Aber viele haben auch den Absprung in eine vielfältigere, motivierendere Tätigkeit geschafft – und dem Bemühen der Produktion sei Dank sogar Aussicht auf Anstellung in einer Gastronomie nahe ihres Zuhauses.

Jeden Preis dieser Branche verdient

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass im deutschen Fernsehen noch nie so oft umarmt worden ist wie bei Vox und im SWR gerade.

Und dass Menschen mit Besonderheit noch viel öfter die Chance bekommen müssten, zu zeigen, was in ihnen steckt; auch im TV-Programm der Sender, die damit sehr viel stärker zur Inklusion beitragen könnten als es ihnen bisher bewusst gewesen sein mag. Am Ende vom "Hirsch" fomuliert André Dietz mit zufriedenem Lächeln: "Ich weiß jetzt, dass ich vorher nichts über Inklusion wusste" – obwohl es eigentlich so einfach ist: "Sobald wir denen was zutrauen, sehen wir Sachen, die wir nicht zu träumen gewagt haben." Im Idealfall entsteht dabei halt auch noch Fernsehen, das jeden Preis dieser Branche verdient hätte.

Oder um mit dem sich selbst(ironisch) so betitelnden "Van Gogh der Küchenszene" zu schließen, der ja ohnehin immer gern das letzte Wort hat: "Leicht war's nicht. Aber es ist echt gut geworden." Dem wäre nichts hinzuzufügen.

Und damit: zurück nach Köln.

Alle Folgen von "Zum Schwarzwälder Hirsch" sind bei RTL+ abrufbar, "Down the Road" steht in der ARD Mediathek bereit.