Spätestens als Tim Raue anfing, die Metallregale im Trockenlager der kleinen Gaststätte in der Nähe von Koblenz neu zu sortieren, hätte eigentlich jemandem aus dem Team auffallen müssen, dass hier irgendwas ganz gewaltig schief läuft. Doch die Kamera lief einfach weiter: "Wir müssen die ganzen Burger und die Schnitzel … da brauchen wir einfach … da muss'n Blick für da sein! Das sind die Verpackungen. Dann muss das hinhauen. Und ich so: aaah, weißt du?, wie so'n Zombie hier durchlaufen und nicht wissen, wo ich gerade bin – wo ist hier überhaupt was?", wortfetzte der Sternekoch gestresst und steigerte sich immer weiter in sein nachvollziehbares Unverständnis hinein: "Warum ist da Öl und warum ist da Öl? Es gibt überhaupt keinen Grund!" – "Wozu stehen da zwei Gläser?" – "WHAT THE FUCK?"

Und für einen Moment hatte man das Gefühl, einem der besten Köche der Welt im Hinterraum einer Regionalgaststätte in Vallendar beim Wahnsinnigwerden zusehen zu müssen.

Es ist dann aber doch dabei geblieben, Raue über die Schulter zu schauen, wie er Lebensmittel aus Metro-Tüten und Rewe-Kartons nebeneinander ins Regal ordnete, alte Toffifee-Packungen entsorgte bzw. Pfandflaschen und Altglas auseinander sortierte. Obwohl's sehr viel angemessener gewesen wäre, einfach nach vorne in die Küche zu gehen und den Verursachern zum Zwecke eines nachhaltigen Lerneffekts zu sagen: Räumt euren Scheiß mal schön alleine auf, danach können wir weiterreden.

Gut gelaunte Kumpeligkeit

Aber so war er nicht, "Raue – Der Restaurantretter" – zumindest nicht bei seinen ersten drei Einsätzen für RTL, wo man die naheliegende Idee hatte, an Erfolge aus den Jahren anzuknüpfen, als Vorgänger Christian Rach durch deutsche Lande reiste, um frischen Wind in vor dem Ruin stehende Küchen zu pusten. Rachs Reprise vor sechs Jahren hatte nicht mehr denselben Schwung, Erbe Steffen Henssler vielleicht zuviel davon. Und zumindest ahnt man nach Ansicht der sehr kurzen ersten "Restaurantretter"-Staffel von 2023, dass Raue durchaus die richtige Nachbesetzung ist. Zumindest falls er sein kurioses Schwanken zwischen gutgelaunter Kumpeligkeit und großkotziger Selbstüberzeugung ("Ich weiß halt, wie's geht") noch in den Griff kriegt.

Sonst ist bei "Raue – Der Restaurantretter" aber leider so ziemlich alles schief gelaufen, was schief laufen kann. Und die Branche um die Erfahrung reicher, wie ungeheuer schwer es manchmal ist, ein Format zu rebooten, bei dem das Erfolgskonzept im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Tisch liegt.

Der Versuch, gleichzeitig an alten Prinzipien festzuhalten und diese durch neue Elemente zu ergänzen, stand jedenfalls auf eher wackeligen Füßen. Um den besuchten Restaurants einen echten Neustart zu ermöglichen, hat Raue seine Frau Katharina an Bord geholt, die den Gastro-Problemfällen auch optisch und marketingtechnisch eine Auffrischung verpassen soll. Dafür rückt sie jedes Mal mit einem umtriebigen Handwerkertrupp an, der die Gasträume kamerawirksam in Abdeckfolie hüllt, um sie neu zu streichen, hellere Lampen anzuschrauben und die Raumdeko aufzuhübschen, bevor neue Tische und Stühle reingetragen werden. (Hier geht's zur DWDL-TV-Kritik der Premiere.)

Jede Woche ein neues Fettnäpfchen

So stimmig das Ergebnis nachher manchmal auch wirkte: Dass weder der Stil der Inneneinrichtung noch der neu erdachte Name der Restaurants vorher mit den Betreiber:innen abgesprochen wurde, um hinterher mit der Kamera den Überraschungseffekt einfangen zu können, ist schlichtweg absurd.

Die Gastro-Beraterin ist deswegen auch gleich in mehrere Fettnäpfchen getreten: Einmal orderte Raue pinke Stühle für den Laden, dessen Chef exakt diese Farbe kurz vor der Wiedereröffnung als "seine größte Angst" betiteln ließ. Ein andermal taufte sie die "Stadion-Gaststätte" auf der Schwäbischen Alb nach ihrem Betreiber in "Ed auf der Alb" um, der sie anschließend darauf hinweisen musste, das "Ed" auf Schwäbisch "nicht" bedeutet, und sein Restaurant also künftig "Nicht auf der Alb" heißen würde. Und im Rheinland-Pfälzischen empfahlen Raue & Raue einem mit 75.000 Euro in der Kreide stehenden Schwesternpaar, ihre Schulden abzuzahlen, indem sie sich mit ihrer "Schnitzeleria" künftig verstärkt an studentische Gäste richten sollten, denen auch noch eine Bonuskarte an die Hand gegeben wurde. WHAT THE FUCK?

Dass auch die Produktion von "Raue der Restaurantretter" bei der Umsetzung kein besonders gutes Händchen bewiesen hat, kommt noch dazu.

Ungünstig geplante Wiederbesuche

Vor allem die Wiederbesuche erwiesen sich als eher ungünstig geplant: Auf der Alb tauchte das Berater-Paar zur Nachkontrolle just dann wieder auf, als das aufgemöbelte Restaurant wegen längerer Krankheit von Betreiberin und Betreiber gerade erst wieder aufgemacht hatte; in Vallendar stellte sich beim Wiederbesuch im umgetauften "Schwesterlein" heraus, dass Küchen- und Lager-Chaos schon nach kurzer Zeit zurückgekehrt waren; dann kündigten die Betreiberinnen auch noch exakt einen Tag vor der geplanten Ausstrahlung an, ihr Restaurant jetzt doch zu schließen – worauf RTL kurzfristig umplante, um in der nächsten Woche ein nachgedrehtes und sehr abrupt kommendes Sätzchen von Raue hintendran zu pappen.

Die dritte und bislang finale Episode war der Versuch, die Rettermission aus dem bislang üblichen, sagen wir: bürgerlichen Umfeld herauszuholen und in die "gehobene Küche" zu transferieren – weswegen die Raues plötzlich in Berlin-Charlottenburg standen, um einen Laden aus ihrer eigenen Nachbarschaft endlich "auf Sternekurs zu bringen", wie es sich der in der Berliner Gastroszene etablierte Betreiber sehnlichst wünschte.

Und während die ganze verdammte Folge immer wieder darauf hinwies, wie essenziell dieser verkackte Stern für die weitere Existenz des Restaurants sein würde, kam Raue am Ende einen Tag vor Bekanntgabe der diesjährigen Michelin-Sterne vorbei, weil er am nächsten keine Zeit hatte. Weswegen die Crew aus dem "Brikz" am Abend drauf alleine in die Berliner Nacht spazieren musste: Kein Stern, schade, tschüßi, Ende.

Jenseits der Nachvollziehbarkeit

Herausgelöst aus der Bodenständigkeit schief laufender Regionalgaststätten hatte "Raue – Der Restaurantretter" so zwar tatsächlich eine andere Tonalität, als man sie vom Genre bislang gewohnt ist. Die muss auf das RTL-Kernpublikum aber maximal irritierend gewirkt haben. Weil Raue, anstatt den Umkrempler geben zu können, behutsam um das empfindsame Ego eines ebenfalls hochdekorierten Kollegen herumtanzen musste, und sich in fast kurios wirkender Feinarbeit am Teller versuchte, um auszudiskutieren, ob der Meerfenchel wirklich zum Stör mit dem Spargel passt bzw. auf dem Dessert zuviel Sauerklee liegt, bevor die wichtigen Gastro-Blogger:innen zum Testessen kommen.

Es war ein Ausflug in eine andere Welt, die für Raue Grundlage seines eigenen Erfolgs und seiner Identität sein mag; aber die gleichzeitig halt maximal weit weg ist von der Nachvollziehbarkeit des Publikums, das RTL mit der Sendung erreicht, und von dem kaum jemand was damit anfangen kann, wenn die Birne "zu laut, zu knusprig" ist, der Brotcrunch ganz leicht angemörsert wird, um wirklich perfekt zu sein, und der Weltuntergang bevorsteht, wenn die bestellten Steinpilze irrtümlicherweise tiefgekühlt kommen, nachdem die Küchenchefs zwischendurch beim Besinnungs-Yoga waren.

Da half's auch nicht mehr, Raue zwischendrin mit Kumpel Kida Ramadan zum Döner- bzw. Currywurstmampfen nach Kreuzberg zu schicken, um ihn alibimäßig Bodenständigkeit demonstrieren zu lassen ("Das sind meine Wurzeln"). Am Ende sahen deutlich weniger Leute zu als in der Vorwoche.

Die Kochprofis waren auch schon da

Wie sehr die Produktion bei "Raue – Der Restaurantretter" geschlampt hat, lässt sich aber vor allem am Beispiel der "Stadiongaststätte" in Hülben demonstrieren – in der praktischerweise schon die RTLzwei-"Kochprofis" waren, um den bereits damals angeblich ganz kurz vorm Ruin stehenden Laden "richtig am Arsch der Welt" auf den Kopf zu stellen. Ochsenmaulsalat nicht schlecht, aber: zu lange Wartezeiten, zu viele Gerichte auf der Karte, zu hoher Wareneinsatz. Für all das fanden die Kochprofis eine Lösung. Der als untergebutterter Gastwirt dargestellte Edwin musste sich sagen lassen: "Deine Frau kocht dich in den Abgrund." Währenddessen freute sich die von RTLzwei als beratungsresistente, Gäste vergraulende "Küchenqueen" porträtierte Marion: "Dass die Kochprofis meine Gerichte eigentlich schon richtig gut gefunden haben, das hat mich schon beeindruckt."

Anschließend wurde noch mit dem verpachtenden Verein gequatscht, ein neues Wegweiserschild angeschraubt und das Rezept für "Mikes Kräuterkroketten" geübt – Testesser zufrieden, "Ich geh mit ‚nem ganz positiven Gefühl nachhause".

Acht Jahre später saß Raue in Hülben, "nicht nur am Arsch der Welt, sondern ein Stück dahinter". Ochsenmaulsalat nicht schlecht, aber: viel zu altmodisch, Portionen zu groß, und warum bitte schmecken die Kroketten so komisch? Der als eigenbrötlerisch dargestellte Edwin musste sich sagen lassen, dass er mit seiner Granteligkeit die Gäste vergrault. Währenddessen freute sich die von RTL als innovationsbereite Küchenchefin porträtierte Marion: "Das hat mir doch dann schon richtig imponiert, dass man [von Tim Raue] auch einfach gelobt wird."

Danke für die Renovierung!

Anschließend wurde noch mit dem verpachtenden Verein gequatscht, neu designte Öffnungszeiten in die Tür geklebt und mit dem örtlichen Metzger ein eigener Signature-Fleischkäse konzipiert – Testesser zufrieden. "Da ist was passiert. Da ist was angeschoben worden", bilanzierte Raue.

Und man braucht bloß kurz ins Internet schauen, um zu sehen, dass das nicht stimmt. "Ed auf der Alb" heißt längst wieder "Stadiongaststätte", Ochsenmaulsalat und Kroketten sind auch wieder da – aber schönen Dank an RTL und die Raues, dass sie den Gastraum kostenlos renoviert, die elektrischen Leinwände für den Beamer angeschraubt und die Werbemaßnahme mit den Postkarten finanziert haben, das hat aus Sicht der Betreiber sicher alles nicht geschadet.

Vielleicht muss sich das Fernsehen aber mal fragen lassen, ob es seinem Publikum weiterhin Restaurant-Reboots als Erfolge verkaufen will, wenn sich die Betreiber:innen die einfliegende TV-Kompetenz im Zweifel nur ins Haus holen, damit die nebenbei die anstehende Ladenmodernisierung erledigt. Und ob die Produktion zu faul ist, zu checken, ob vorher schon mal jemand anders da war, um fast dieselbe Geschichte zu erzählen. Oder ob man das einfach geflissentlich ignoriert hat.

Wann kommt Kabel Eins?

Kann aber natürlich sein, dass sich das "Restaurantretter"-Fazit aus dem Off noch bewahrheitet, und es "mit Sicherheit nicht der letzte Besuch auf der Schwäbischen Alb" war. Kabel Eins war glaub ich noch nicht da.

Es ist also – auch mit Blick auf das messbare Auf und Ab in der Resonanz des Publikums – eher ein eher ambivalentes Fazit, obwohl Tim Raue als "Restaurantretter" wirklich Potenzial hätte, den Formatklassiker weiterzutragen und ihm ein paar ebenso interessante wie unterhaltsame Missionen hinzu zu fügen. Bei einer wünschenswerten Fortsetzung müsste man sich dafür nur noch viel, viel, viel mehr Mühe geben. Oder um's mit den Worten eines der besten Köche und Gastro-Analysten der Welt zu sagen: "Da sind viele Sachen, die man ändern muss. Sonst geht irgendwann das Licht aus."

Und damit: zurück nach Köln.

Alle Episoden von "Raue – Der Restaurantretter" sind bei RTL+ abrufbar; der "Kochprofis"-Einsatz auf der Schwäbischen Alb von 2005 ebenfalls.