Vergessen Sie alles, was Ihnen das verweichlichte lineare Fernsehen bislang als Herausforderung verkauft hat: Dschungelcamp, "Duell um die Welt", "Big Brother" – alles Kindergeburtstag gegen das, was Ende April zeitgleich beim neuen Streaming-Anbieter Paramount+ und auf YouTube startete: die Survival-Reality "Arctic Warrior"!

In der "Höllen-Challenge" setzt sich Ex-Bundeswehr-Feldwebel, Afghanistan-Veteran und Survival-Video-Produzent Ottogerd Karasch mit sieben Kumpels aus der Truppe samt einer Horde übermotivierter Laien am Polarkreis aus, auf dass die in Zweier-Teams aufgeteilte Mann- und Frauschaft für vier Tage völlig auf sich gestellt bei minus 28 Grad durch Lappland stapft, währenddessen fast nichts essen darf und Aufgaben (Eis zum Kochen bringen, Schneeschuhe bauen, Löffel schnitzen) erledigen muss, um nachher mit möglichst wenig Minuspunkten ins Ziel zu stürmen.

Interessantes Kooperationsmodell

Von Anfang an legt es das zum "Event des Jahres" aufgepumpte Projekt von Dreiwerk Entertainment darauf an, sämtliche bisher angetippten Grenzen des TV-Entertainments nochmal lustvoll zu überspringen.

Oder wie's in einer der kleingedrucktesten Warneinblendungen in der Geschichte der deutschen Bewegtbildunterhaltung heißt (zumindest in der YouTube-Version): "Das nachfolgende Programm kann audiovisuelle Darstellungen von Blut, Verletzungen, Erfrierungen, Erbrechen, Körperflüssigkeiten und medizinischen Eingriffen enthalten. Die Umstände können für einzelne Zuschauer belastend sein." Gute Unterhaltung!

Während Paramount+ die zweimal wöchentlich veröffentlichten neuen Folgen jeweils sieben Tage exklusiv zahlenden Abonnent:innen zeigen durfte, folgte die Veröffentlichung für alle anderen anschließend Sponsoren-finanziert über den Channel des Hauptprotagonisten "Otto Bulletproof", der im Vorklapp zusätzlich zum Hauptsponsor noch supportende Videospiel- und VPN-Anbieter bewarb. Kostet halt ein bisschen was, so ein Ausflug in die Tundra.

Aber das ist eher nicht der Grund, weshalb "Arctic Warrior" im linearen Fernsehen in seiner jetzigen Form kaum möglich wäre – obwohl die Versuchung bei zahlreichen Sendern groß sein dürfte, ein Projekt zu akquirieren, das aus dem Stand einen derart respektablen Erfolg vorweisen kann. Die erste "Arctic Warrior"-Episode verzeichnet alleine auf YouTube mittlerweile 2,3 Millionen Stream-Abrufe; neue Episoden sammelten innerhalb der ersten 24 Stunden zuletzt eine Viertel Million Zuseher:innen ein.

Anschlussfähiger als das Original

Und das ist noch verhalten gegenüber dem Erfolg des ähnlich funktionierenden YouTube-Reality-Vorbilds "7 vs. Wild", das in seinen beiden bisher gelaufenen Staffeln seit 2021 teilweise auf bis zu 12 Millionen Abrufe pro Episode kam – und sichtbar Blaupause für "Arctic Warrior" war, das den Hit teilweise bis ins Detail kopiert.

Vermutlich mit dem Vorhaben, eine Variante der Survival-Show zu etablieren, die auch für enttäuschte Fans des Originals anschlussfähig ist, nachdem dessen Erfinder Fritz Meinecke zuletzt des öfteren unschöne Schlagzeilen machte, woraufhin sich Fans und ein Werbepartner abwandten.

Da trifft es sich nur allzu gut, dass Karasch als Gewinner der zweiten "7 vs. Wild"-Staffel nun Gesicht des Konkurrenzformats ist, welches wiederum nur der erste Schritt in einem umfassenderen Franchise-Aufbau zu sein scheint: "Desert Warrior" und "Jungle Warrior" sind auf Karaschs Website bereits angekündigt, und wer will, kann sich aktuell für die (nicht kamerabegleitete) Ausbildung zum "Ocean Warrior" anmelden, für 1.397,99 Euro inkl. MwSt. bei lediglich 49 Euro Sofortanzahlung.

Aber konzentrieren wir uns aufs Wesentliche: den selbst formulierten Anspruch von "Arctic Warrior", sich dem Publikum "möglichst authentisch und ungefiltert" zu präsentieren. Was sich gleichzeitig als Versprechen und als Drohung deuten lässt.

Für die Show, für Otto!

Der Beginn als Bundeswehr-Werbefilmchen lässt Drastisches erwarten: Nach gelöstem Empfang werden die frisch zugeteilten Teams sprichwörtlich ins eiskalte Waser geworfen – um beim "Icebreaking" zu demonstrieren, dass sie sich alleine aus einem Eisloch befreien können, weil sonst: Sofort-Disqualifikation. "Die Aussetzung" erfolgt nachher mit Hundeschlitten und Helikopter, nachdem der Co-Projektleiter wenige Stunden nach einer filmisch ausführlich dokumentierten Übelkeitsattacke ("Drauf mit der Kamera, egal – weil: Ich kotz sowieso, halt jetzt drauf: Für die Show, für Otto!") mit Fellmütze, Tierfell überm freien Oberkörper und Fackel in der Hand auf einem Skidoo übers Eis herangerast kam, um allen nochmal die Gefährlichkeit des Unterfanges darzulegen.

Bis urplötzlich Schluss ist mit Action, die Überstunden geflogene Kameradrohne eingemottet wird und "Arctic Warrior" einen erzählerischen U-Turn macht, weil die Teams nicht nur was ihr Überleben angeht auf sich alleine gestellt sind – sondern tatsächlich auch beim Filmen ihrer Erlebnisse mit der GoPro.

Die hält aus der Ferne noch fest, wie sich TV-Liebhabe-Raubart Evil Jared in den finnischen Wald erleichtert, bevor es mit dem ersten 15-Kilometermarsch losgeht. Und auf einmal sehr, SEHR viel Zeit für Selbstgespräche in die Kamera und sich wiederholende Nebensächlichkeiten bleibt.

Ein Festival der Warn- und Infotafeln

Das ist keineswegs als Leistungsschmälerung der Warrior-Anwärter:innen gemeint, denen schon nach den ersten Stunden schwant, worauf sie sich eingelassen haben. Paralympics-Skifahrer Gerd Schönfelder ​​​​​​schimpft: "Das ist die größte Scheiße, die ich jemals gemacht habe" und sendet einen "schönen Gruß an die Organisatoren, ihr seid richtige Arschlöcher". Wildcard-Gewinnerin Yvonne hat eigentlich noch Rückenschmerzen von der letzten Dschungelexpedition. Gestandene Kommando-Spezialkräfte-Mitglieder, die verpixelt durch die Show stapfen, um nicht erkannt zu werden, geraten an die Grenze, wenn der Teampartnerin ein "Halt die Fresse" rausrutscht ("Für mich ein absolutes No Go!"). Und vermutlich hat Herrn Bulletproof niemand vorher über die von seinem Teampartner, dem Comedy-YouTuber Sascha (unsympathischTV), ausgehende Spezialgefahr aufgeklärt: starkes Ohrenbluten wegen permanentem In-die-Kamera-Gequassel.

Alle anderen Risiken sind ausführlich abgesteckt: Dehydration, Hypothermie, Schwitzen, Fallen, Rutschen, bitte alles unterlassen. Zur weiteren Einordnung des Geschehens, das vollständig ohne Off-Kommentar auskommt, werden regelmäßig Warn- und Infotafeln eingeblendet, die ein an Kuriosität grenzendes Eigenleben entwickeln.

"Es stand zu jeder Zeit ein professionelles Rettungsteam bereit", lässt ein Banner die Zuschauer:innen wissen; und natürlich: dass hier "nichts zur Nachahmung empfohlen" ist. Mit voranschreitender Zeit wirken die hübsch auf den Bildschirm gewehten Kommentare leicht angesäuert, wenn etwa bei Leichtsinnigkeiten erinnert werden muss, dass eine Rettung im Schnee bis zu 45 Minuten dauern kann: "Von solchen Aktionen wurde daher strikt abgeraten."

Die Zahnpasta taut überm Lagerfeuer

Fällen von Totholz? Nicht erlaubt, "wurde im Vorfeld klar kommuniziert": "Wir bitten die finnische Bevölkerung um Entschuldigung." (Zeigen es aber trotzdem ausführlich.)

Irgendwann schwingt die Genervtheit ("Don't do stupid things!") erst in Klugscheißerei um ("Leider fehlt hier der Videobeweis", "Das Team hat die Challenge nicht verstanden"), und dann in Ironie, wenn der Hinweis aufs mitgegebene Medi-Kit zum Stoppen von "potenziell tödlichen arteriellen Blutungen" mit dem Zusatz kommt: "In dem Kit befinden sich keine Tabletten, die den Drang zum Umsetzen von blöden Ideen unterdrücken." Bis die Einblenderei irgendwann fast vollständig aufhört, gerade so als sei der zuständige Tafelschreiber verärgert nachhause gegangen.

Auch als gewöhnliche:r Zuschauer:in muss man sich auf die über acht (!) von insgesamrt zwölf Folgen gedehnte Eintönigkeit und Wiederholung einlassen wollen: Ständig wechseln sich Bäume und Schnee ab, Schnee und Bäume, Hügel, zugefrorene Flüsse, Bäume und Schnee. Dann Lageraufbau, Holzsuchen, Feuermachen, Schlafen, Lagerwiederabbau. Und alles von vorn.

Zu den Höhepunkten gehört, wenn die Zahnpasta überm Lagerfeuer aufgetaut werden muss und Teilnehmer zur Desinfektion auf ihre Wunden pinkeln. Zwischendurch werden schlechte Witze gerissen, Sascha singt den Hook seines bislang unveröffentlichten Schlagers, und regelmäßig kehrt der Alptraum der YouTube-Community zurück: "kein Netz" fürs Notfalltelefon!

Vernunft und Leichtsinn

Die spärlich bemessenen Essensrationen befördern Fantasien imaginierter Lieblingsgerichte: Kässpätzle, Tortellini in Käsesahnesauce, Pizza, frisches Obst – oder, wie unsympathischTV erklärt, nachdem er sich ausführlich darüber beschwert hat, dass das mitgegebene Not-Snickers nicht vegan ist: "Was ich krass vermiss, ist Döner." (Aus Verzweiflung wird dann aber doch nur der gefrorene Angelköder angelutscht.)

"Immer noch Tag 2 – fühlt sich aber an wie Tag 5", sagt eine Teilnehmerin zwischendurch – und vor dem Bildschirm sitzt man halsstarrig nickend: hier auch, hier auch! Im linearen Fernsehen würde "Arctic Warrior" so niemals auch nur eine einzige Werbepause überstehen.

Einmal wird es kurz mal hektisch, weil eines der Teams mit der Drohne gesucht werden muss, nachdem das Notfalltelefon den Geist aufgegeben hat. Im Großen und Ganzen entpuppt sich der Überlebenstrip ganz in weiß aber als halb so schlimm wie vorher angedröhnt. Und zwar: glücklicherweise. Weil die Vernunft einzelner Teilnehmer:innen ("Am Ende ist das hier ein YouTube-Format und dafür kann man sich nicht ganz kaputt machen") sich mit dem Leichtsinn anderer abwechselt.

Zwiespalt der Echtheits-Fixierung

Als Kampfsportler und Abenteuer-YouTuber Stefan sich das Knie verdreht, informiert er die Team-Leitung anders als abgesprochen nicht, sondern schleppt sich mit Schmerzen und Gepäck weiter die Hänge hoch: "War eh schon kaputt. Laufen geht – passt, easy." Um dann vorm Finale wegen Erfrierungstendenzen an den Fingerkuppen doch noch aus dem Spiel genommen zu werden. Vermutlich kann das "Arctic Warrior"-Team froh sein, dass nicht noch Gravierenderes passiert ist.

Einmal, als es Evil Jared bei einem Tagesmarsch gefährlich aufs Eis über einem zugefrorenen Fluss legt und Team-Partner Hauke ihn vorm potenziellen Einbruch bewahren muss, erfährt das Publikum das nachher nur per Schilderung in die Kamera: "Das war mir zu riskant, da zu filmen", gesteht Hauke.

Und bringt damit den Zwiespalt der Reality auf den Punkt, die möglichst authentisch sein will – und wirklich dramatische Momente im Zweifel nicht auf Kamera hat, weil die fürs Filmen zuständigen Beteiligten naturgemäß erstmal damit beschäftigt sein sollten, das eigene Ableben abzuwenden ohne zwischendurch auf "REC" drücken zu können.

Abgesehen davon löst "Arctic Warrior" sein Kernversprechen der Authentizität aber im Mittelteil durchaus ein: Als Zuseher:in ist man sehr nah dabei, wie sich die Teams über die Hänge schleppen und im Schwanken zwischen Naturbegeisterung und Erschöpfung abwechselnd Dünnhäutigkeit und Versöhnungswillen demonstrieren, mal in Selfie- und mal in Videospielperspektive, zeitweise wie ein "Blair Witch Project" im Tiefschnee (ohne Hexe).

Lieblos zu Ende gehuddelt

Umso bedauerlicher ist, dass "Arctic Warrior" so lieblos zu Ende gehuddelt wird: Die letzten anderthalb Tage sind zack-zack rum, alle machen nochmal "Icebreaking", um Punkte zu sammeln, die wegen umschlagender Witterungsverhältnisse nachträglich aber doch anders gewertet werden als angesagt. Die Regeln des Finalrennens, für das ja all die verdammten Punkte gesammelt wurden, werden gar nicht erst erklärt, sondern bloß hastig eingeblendet. Und nach vier Minuten ist alles schneller zu Ende als Prominente bei "Wetten dass…?" einst sagen konnten, dass sie jetzt zum Flieger müssen.

Nicht mal den Siegern ist eine abschließende Bilanz vergönnt, Zeit für eine gemeinschaftliche Reflexion – Fehlanzeige. Dabei hätte man gerne gewusst: Was war am härtesten? Würden die das nochmal machen? Was ist aus den Verletzungen geworden? Wie war der letzte Abend? Und wie bilanzieren die Organisatoren ihr Unterfangen? (Am liebsten nicht noch in zusätzlichen "Behind the Scenes"-Episoden.)

Nur YouTuberin Lolo rekapituliert zwischendurch mal für sich: "Ich werd' an vieles mit einer ganz anderen Dankbarkeit herangehen."

Hui, da gibt's noch einiges an Formatarbeit zu leisten, bis das passt. Die aber könnte sich durchaus lohnen, um den "Warrior" als Streaming-Alternative zu etablierten TV-Wettstreits in die Verlängerung zu schicken. Mindestens damit demnächst irgendein abenteuerlustiger YouTuber mit der GoPro im Dschungel stehen und fluchen kann: "Das ist die größte Scheiße, die ich jemals gemacht habe."

Und damit: zurück nach Köln.

Die beiden letzten Episoden der ersten "Arctic Warrior"-Staffel erscheinen heute und am Mittwoch auf YouTube; auf Paramount+ stehen sie bereits zur Verfügung.