Es ist über viele Jahrhunderte erprobtes Brauchtum, dass Menschen wochenends in speziell dafür vorgesehenen Räumlichkeiten zusammenkommen, um mit dem übernatürlichen Wesen ihrer Wahl in Verbindung zu treten und diesen Glauben mit festgelegten Ritualen und Pflichten zu begehen. Und obwohl sich die beiden hierzulande dominierenden Kirchen angesichts schwindenden Zuspruchs weiterhin einen erstaunliches Mitspracherecht beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk bewahren konnten, tritt dieser längst als einer ihrer schärfsten Konkurrenten in Erscheinung.

Und zwar, indem er allen, denen das Original zu trist und zu martialisch ist, eine ähnlich durchritualiserte Alternative anbietet, bei der niemand ans Kreuz genagelt und auch nicht schief ansehen wird, wenn er Apfelschorle schlürfend in Camp-David-Montur zur gemeinsamen Andacht erscheint.

Seit fast zwanzig Jahren läuft im Ersten zur allerbesten Kirchen-Primetime am Sonntagvormittag den ganzen Sommer lang "Immer wieder sonntags", ein Ersatzgottesdienst für Entertainmentjünger:innen, von dem sich die Kirchen noch ordentlich was abgucken können.

Alle Ausschweifungen sind verziehen

Nicht nur die institutionalisierte gute Laune und dass sich per Kombiticketerwerb problemlos ein Besuch in der daneben gelegenen Wasser- und Badewelt dazubuchen lässt, falls man flüssig genug ist; sondern auch der fortschrittlich-moderne Umgang mit Sünder:innen, denen die übergeordnete Entität in Baden-Baden bereit ist, private Ausschweifungen zu verzeihen, um sie mit anhaltender Moderationsbeauftragung auf den rechten Weg zurückzuführen.

Seit fast zwanzig Jahren ist Stefan Mross Direktor des erstmals 1995 gezeigten Ersatzfernsehgartens im Ersten, der seit kurzem nicht mehr direkt im regional bekanntesten Freizeitpark des SWR-Sendegebiets produziert wird, sondern nur noch daneben – was der durchaus erstaunlichen kommerziell motivierten Symbiose zwischen Sender und Betreiber aber keinen Abbruch getan hat, ganz im Gegenteil.

Und die Tage, an denen zu Beginn des Jahres in Zweifel gestanden haben mag, dass Mross weiter durch den von Kimmig Entertainment zugelieferten "Sonntagvormittag mit Herz" führen würde, sind längst vergessen. Sonst hätte ja jemand umständlich den Schlagerklassiker umtexten müssen, den Mross Woche für Woche im Wechsel mit einem unsichtbaren Chor zum Start schmettert: "Jeden Sonntag freu' ich mich darüber / Dass wir uns im Ersten wiederseh'n / Doch es wär' mir wirklich noch viel lieber / Würd' die Zeit nicht gar so schnell vergehn", behauptet Mross. Und lässt sich – "Gute Laune, frohe Liiieder" – selbst besingen: "Er ist sonntags unser Sonnenschein / Sollte auch mal keine Sonne schein'".

Is' ja nur a Wasser

Anfang des Monats hatte diese es kurz mal satt, sich weiter ständig provozieren zu lassen, verschwand kurzerhand hinter dicken Regenwolken und gab diesen auf, die "Arena" unter ihr so nachhaltig einzunässen, dass Mross "nachguggeln" musste, wann ihm der Himmel das letzte Mal so wenig wohlgesonnen war: anno 2019!

Macht nix, der Entertainer legte sich, sein in Plastikregencapes gehülltes Publikum abklatschend, nur fast auf spiegelglatter Bühne hernieder, um zu scherzen, dass das wohl "Freudentränen vom Petrus" seien, "dass wir wieder am Start sind", um nachher fortlaufend Gags über den "strahlenden Sonnenschein" zu machen und zwischendrin das vollgesaugte Sakko zu wechseln: "Is' ja nur a Wasser."

Dabei ist sonst die meiste Zeit wirklich gutes Wetter, wenn der SWR zu seinem Harmlosigkeitswettbewerb bei Rust einlädt, um dort Schlagerstars in Liederform gepresste, schlicht stabgereimte Standardsituationen vortragen zu lassen, die zuvor maximal aufgezuckert und ausgeschmückt worden sind, um mitklatschbar zu sein. Ross Antony singt "Ich lieb die Liebe" und "Lass die Liebe Liebe sein", Nick P. singt "Mit den Füßen im Meer", Francine Jordi hat "Herzburnout", Bernhard Brink und die Nockis singen Hit-Medleys, zum Hook von Rednex' "Spirit of the Hawk" von 2000 behauptet Anna-Maria Zimmermann: "Ich bin das Tonic, du bis mein Gin / Zusammen sind wir eins" und gleich tanzt noch die kleine Schwester von Ben Zucker aus der Kulisse, diesem keck in V-Form überdachten Treppenhimmel in Sonnengelb, der aussieht, als hätte der SWR kurz vor Sendungsbeginn ein Gartencenter überfallen, um hernach korbgeflochtenes Gestühl vor die Showküche zu stellen und ganz, ganz unauffällig ein paar Mikrofone aus dem Terracotta-Schilf herauswachsen zu lassen.

Durchschematisiert bis zur letzten Sekunde

"Immer wieder sonntags" ist Eskapismus-Fernsehen, das die vermeintliche Unbeschwertheit des Mediums der 60er Jahre zelebriert, in dem alles unter Kontrolle ist und durchschematisiert bis zur allerletzten Sekunde. Dafür hat man sich maximale Ambitionsfreiheit auferlegt.

Die Auftritte der immer gleichen Stars werden mit immer gleichen Rubriken abgewechselt: In der "Showbox" kann das Publikum der Kamera verraten, was dabei herauskäme, "wenn du einen Wunsch frei hättest" (Familie soll gesund bleiben, langes Rentnerleben zum Reisen, Frieden auf Erden); beim "Roten Mikrofon" singen Kinder "Es war einmal ein Stachelschwein", "Oma ist lieb" oder "Gesucht wird Räuber Hotzenplotz", um nach Mross'scher Smalltalk-Androhung ("So, ihr Mäuse, jetzt unterhalten wir uns mal a bisserl") mit einem Metallsuchgerät bzw. Walkie-Talkies belohnt zu werden ("Da könnt ihr euch schön erreichen"); der Kurzdialog mit Holzwurm Willi ist die traurigste Puppen-Performance im deutschen Fernsehen; fürs "Große Musikquiz" um den "Goldenen Notenschlüssel" müssen Walburga, Axel und Mike aus dem Publikum "Jenseits von Eden" und "YMCA" so gut summen, dass die Stars auf der Bühne es erkennen; nenne drei rote Früchte aus der Obstabteilung ("Himbeere Erdbeere, Radieschen" – Publikum brüllt vor Lachen); für "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" singt Mitch Keller mit seinem Vater Klaus Keller "New York, New York"; und bei der "Sommerhitparade" treten zwei noch unbekannte, vorher aus einer traurigen Plexiglasloskugel gezogene Schlager-Newcomer:innen gegeneinander an, aber das Publikum wählt für 14 Cent pro Anruf schon die ganze Staffel eh bloß Kandidat Frank Andre wieder, der dann nochmal "Für mich gibt es nur Eine" zum Abspann singt.

Putenschnitzelklopfen im Takt

Angeblich um die singenden Gäste besser kennenzulernen lässt Mross sie von ihm angefangene Sätze vervollständigen oder erkundigt sich beim "Frühstück im Bett" (mit essbarem Deko-Croissant!), ob es stimmt, was die Presse schreibt: Dass Ute Freudenberg immer extrem früh aufsteht? Ein Auto mit fast 500.000 Kilometern auf dem Tacho hat? Elefantenskulpturen sammelt? (Ja / Nein / Früher mal.)

Zu den Höhepunkten von "Immer wieder sonntags" gehört die "Starküche", in der Sänger:innen während der laufenden Sendung "Gerichte mit Geschichte" zubereiten müssen, meistens irgendwas von der Oma, denn die "hat alles können", verrieten Sigrid & Marina neulich, bevor sie sich an die Arbeit machten, um im Takt zu den Hits der auftretenden Kolleg:innen Putenschnitzel zu klopfen, Zitronen zu pressen und Nino de Angelos Playbackholperer bei "Barfuß durch die Hölle" mit Erdbeerpürieren zu überspielen, um Mross anschließend zu dem Scheinkompliment zu motivieren: "Es muss nicht immer teuer und aufwändig sein." (Immerhin besser als sein versehentlich sehr wahrer Kommentar zu Normen Langes "Curryreis-Hackfleischpfanne mit Erbsen": "Ich kann ja nicht sagen: schmeckt nicht.")

Dafür, dass die "Immer wieder sonntags"-Welt – erst kürzlich zwischen Wasserrutschen-Eldorado und Drachenburg mit Promenierkanälchen neu gebaut und nach Veranstalter-Auskunft auch "für Rollatoren geeignet" – für Saisonarbeitskraft Mross seit beinahe zwei Jahrzehnten wiederkehrender Einsatzort ist, macht er seine Sache vor laufender Kamera gleichzeitig erstaunlich souverän und (dank zahlreicher Verhaspeler oder Fast-Ausrutscher) sehr schusselig.

Griaß Eich, habe die Ehre

Daran, dass es sich um harte Arbeit handelt, kann angesichts der stets zusammengefalteten Spickpappen mit den neongelb eingekreisten Satzmarkierungen und den langen Texten für vorzutragende Muttertagsglieder, auf die unauffällig geschielt werden muss, wenn die Kamera gerade die Totale einfängt, eigentlich nicht gezweifelt werden. Mross ein wandelndes Vorgespräch mit Moderationskärtchensteuerung zu nennen, wäre dann aber doch etwas unfair, schließlich ist er der Beste, den man sich für diesen Job vorstellen kann: Er trägt er auch die absurdesten Übergänge vor, ohne dabei mit der Wimper zu zucken ("Was Köln und das Zillertal gemeinsam haben? Da kommt aus jeder Haustür Musik raus", "Kennen Sie sich eigentlich aus mit Horoskopen?"), ist mühelos in der Lage, sich selbst zu identifizieren, wenn er geschriebene Anweisungen vorliest ("… unser Stefan – das bin ich") und stellt einfach die Fragen, die ihm vorher jemand notiert hat, damit Cindy Berger vom Erfolgsduo Cindy & Bert (✝), das " Immer wieder sonntags" einst populär machte, ihren neuen Hit "Mein Berlin" vortragen kann: "Cindy, zwei Fragen: Wie geht's dir und wo wohnst du?"

Seine bayerische Herkunft braucht Mross im SWR nicht zu verstecken, sagt: "Griaß Eich, habe die Ehre". Oder: "Da schick'mer ganz liebe Grüße nach Berlin." Er überrascht mit Hochdeutsch: "Liebe Grüße, habe die Ehre." Und denkt auch an alle, die nicht im Sendegebiet wohnen: "Sagst den Burschen da drüben einen schönen Gruß." Meistens sagt er aber einfach: "Habe die Ehre", weil das einfach immer passt und sich 115 Minuten Sendezeit nicht von alleine füllen.

Hurra, Briefpost aus Australien!

Die Selbstläuterung nach hässlichen Schlagzeilen wegen zerbrochener Ehe und lästigem Gerichtsauftritt nach Hotelprügelei ließ Mross bislang unkommentiert, witzelte neulich nur kurz: "Alles, was in der Zeitung steht, stimmt – nicht immer" – und seufzte: "Man braucht ja auch Presse, wir sitzen alle im selben Boot." Außerdem ist seine vormalige Gattin (und vorübergehende "Immer wieder sonntags"-Showküchenchefin), Anna-Carina Woitschack, für Ende Juli bereits als Gästin angekündigt, das wird wieder einen Schlagzeilenhagel geben!

Sein Publikum, "das beste der Welt", hat Mross zweifelsfrei auf seiner Seite, alleine schon deshalb, weil er die alte Präsentator:innen-Regel beherzigt, sich auch für Aktionen und Witze auf eigene Kosten nicht zu schade zu sein: "Wenn ich nicht geschminkt bin, bin ich eigentlich der Andy Borg." Er weissagt: "Unser Publikum wird jetzt nochmal einen Riesenapplaus geben und Zugabe rufen!" Und berichtet, wenn wieder "Briefpost aus Australien" eingetrudelt ist (wahrscheinlich mit vor die Postkutsche gespannten Kängurus).

All das ist Teil der "Immer wieder sonntags"-Gemeinschaft, in der jede:r geduldet ist und niemand verurteilt wird, nicht mal der Typ, der beim Auftritt des Erfolgs-Duos Fantasy vor zwei Wochen immer wieder breit grinsend in die Kamera aufgestanden ist, um im Bild zu sein, bevor die Duldung durch langsames Einzoomen sanft abgemildert werden musste.

Das sonntägliche Schlagersakrament

Und falls sich nicht noch ein umfassender Konflikt aus der Frage entwickelt, wessen Mama eigentlich das beste Rotkraut der Welt zubereitet, kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass Mross auch die nächsten zwanzig Sommer noch dafür sorgen wird, die TV-Gemeinde im Ersten ihr sonntägliches Schlagersakrament empfangen zu lassen, bei dem sich wirklich alle gegenseitig verdient haben in ihrem Bestreben, einander keine Unzumutbarkeiten abzuringen.

Oder wie es zwischen Offenburg und Freiburg heißt, wo man an diesem Sonntag nach lästigen Aussetzern wegen Pfingsten und Evangelischem Kirchentag endlich wieder zusammenkommt: Fernsehen muss nicht immer teuer und aufwändig sein. Meistens reicht auch "Immer wieder sonntags".

Und damit: zurück nach Köln. Genießen Sie den Sommer.

"Immer wieder sonntags" läuft ab 10.03 Uhr live und noch bis Ende August wöchentlich im Ersten.