Was zuletzt in Berlin, Brüssel und Bergkarabach los war, wissen Sie wahrscheinlich aus den Nachrichten. Und was die Menschen in Goslar, Horka, Kreuzthal und Kühlungsborn bewegt – auch. Jedenfalls wenn Sie zu den Stammseher:innen der "Tagesthemen" gehören. Vor drei Jahren hat das Erste die Sendezeit seines täglichen Nachrichtenmagazins verlängert, um das Publikum regelmäßig überall dort hin mitzunehmen, wo Leute sonst bloß mit ihrer zu Parteiprozenten kumulierten Wahlentscheidung in den Nachrichten auftauchen.

Die "Tagesthemen"-Rubrik "mittendrin" will das ändern und schickt Reporter:innen deshalb in alle Ecken des Landes, um Einblicke in einen deutschen Alltag zu erhalten, der sonst nur selten von Kamerateams begleitet wird.

Anfangs lief das, wie an dieser Stelle kritisiert, eher hakelig: Viele Beiträge erzählten vor allem einen institutionalisierten Dorfbewohner:innen-Frust samt Ohnmacht gegenüber Konzernen und Behörden – Klassiker des Lokalzwists. Mittlerweile hat sich das erfreulicherweise geändert, zumindest größtenteils.

Beispiele des positiven Gelingens

Viele der Minireportagen sind immer noch arg erwartbar oder lassen journalistische Ambition vermissen. Schausteller:innen geht's schlecht, weil Personal fehlt, Kosten steigen und die Behördenauflagen zunehmen? Ja prima, SWR: Dann frag beim nächsten Kirmesdreh am Mainzer Rheinufer doch einfach im direkt daneben stehenden Rathaus nach, warum sich zumindest Letzteres nicht ändert, wenn die Städte ihre Volksfeste nicht verlieren wollen!

Andere "mittendrin"-Beiträge hingegen porträtieren Menschen mit zweifellos ungewöhnlichen Ideen: den Landwirt im niedersächsischen Beverstedt, der sich als Veganer für Ausstieg aus der Milchproduktion entschieden hat und Paten für seine Tiere suchte, um sie nicht zum Schlachter schicken zu müssen.

Oder sie zeigen, wie die Wahrnehmung der Gegenwart verschwimmt, wenn man in Garmisch-Partenkirchen monatelang auf 2374 Höhenmetern für den Betrieb einer von der Zivilisation abgeschirmten Wanderhütte sorgt.

Zunehmend erfüllt die Rubrik auch den selbst formulierten Anspruch, Beispiele des positiven Gelingens zu zeigen: Wenn in Marienrachdorf Pensionär:innen das Leben im Senior:innenheim gegen die Arbeit auf dem Pflegebauernhof tauschen; wenn Schüler:innen in Bad Sobernheim die Klassenfahrt nutzen, um sich für den Naturschutz zu engagieren; wenn ein Busunternehmen aus Andernach gezielt Fahrer:innen aus dem Ausland anwirbt, um der Personalknappheit entgegenzuwirken; und wenn eine Unternehmerin aus Neuburg an der Kammel den kompletten Betrieb umorganisiert, um Fachkräfte mit einer 4-Tage-Woche locken zu können.

Überall fehlt der Nachwuchs

Viele Themen wiederholen sich naturgemäß: In Frankfurt (Oder) fehlt den Spielmannszügen und in Hermaringen den Kegler:innen der Nachwuchs? Da lässt sich doch was machen: Indem auch Dudelsackspielende willkommen geheißen und die Jungen mit speziellen Angeboten zurück auf die leeren Bahnen geholt werden.

Und obwohl es immerzu um Mobilität geht, sind die Probleme auch auf dem Land nicht überall dieselben. Weil die Stadtbusse in Höxter oft leer fuhren, gibt es jetzt On-Demand-Linien, der per Telefon oder App buchbar sind – und die Zahl der Fahrgäste:innen hat sich mehr als verdoppelt. Neustadt am Rübenberge stört derweil darüber, dass der ganze Ort voller Bahnübergänge ist, an denen ständig die Schranken runtergehen, weswegen der halbe Ort permanent zu spät kommt.

"Mittendrin" schaut auch in die Städte und erklärt, wie eine Schule in Essen mit dem Verkehrschaos umgeht, weil immer mehr Kinder morgens per "Elterntaxi" gebracht werden; in Hamburg soll ein altes Parkhaus zu neuem Wohnraum verwandelt werden – super Idee, aber schwerer als gedacht; und in Ludwigshafen wird um die ironischen Führungen durch "Germany's Ugliest City" gestritten: Tourist:innenmagnet oder Imageschaden?

Reichtum unterschiedlicher Perspektiven

So erarbeiten sich die "Tagesthemen" im Anschluss an die Meldungen aus aller Welt tatsächlich regelmäßig eine gewisse Erdung und liefern einen wohltuenden Reichtum an Perspektiven, der von den für die Zulieferung verantwortlichen Landesrundfunkanstalten aber unterschiedlich intensiv genutzt wird.

In der Diskussion darüber, ob der MDR Probleme damit habe, seine Regionalkompetenz mit den überregionalen Nachrichtenmarken des Ersten zu teilen, wiegelte Programmdirektor Klaus Brinkbäumer im DWDL.de-Interview kürzlich ab: Nee, die Teams füllten u.a. "leidenschaftlich die Reportage-Rubrik 'mittendrin' für die 'Tagesthemen'."

Wenn man sich die "mittendrin"-Ausgaben der vergangenen Monate genauer anschaut, wirkt diese Leidenschaft aber eher gedämpft: Seit Mai gab es nach meiner Zählung jeweils nur vier "mittendrin"-Reportagen aus Sachsen und Thüringen, null aus Sachsen-Anhalt.

Das ist vor allem deshalb kurios, weil der MDR ursprünglich federführend an der Einführung der Rubrik beteiligt war, nachdem u.a. aus dem von Ministerpräsident Reiner Haseloff geführten Sachsen-Anhalt die Kritik geäußert worden war, ostdeutsche Perspektiven kämen in der täglichen Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme zu kurz.

Landesrundfunkanstalt im Stimmbruch?

Zum "mittendrin"-Auftakt hatte MDR-Intendantin Karola Wille überschwänglich erklärt, mit der neuen Rubrik "haben wir als MDR die Chance, die Stimme des Ostens bundesweit stärker zur Geltung zu bringen". Das gelang zuletzt eher so mäh: Klar kann man erzählen, wie Studierende der Forensik im sächsischen Mittweida mit digitalen Mitteln vermeintliche Kriminalfälle noch mal neu aufrollen; und wie Studierende der Kunstgeschichte in Sausedlitz eine Barockkirche aus dem 18. Jahrhundert restaurieren. Aber sind das echt die Themen, die "die Lebenswirklichkeit in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (…) reflektieren", "das, was die Menschen rings um uns bewegt", wie Wille versprochen hat?

Und selbstverständlich lässt sich zurecht beklagen, dass der Osten häufig nur in Klischees gesehen wird, wie es der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow zuletzt Mitte Juli u.a. im "Tagesthemen"-Interview tat, weil "die Mehrheit jener, die Verantwortung tragen in diesem Land, aus westdeutscher Perspektive schauen".

Aber müsste man dann nicht auch als selbsterklärte Ostinstanz die sich bietenden Gelegenheiten stärker nutzen, um dem entgegen zu wirken, anstatt wieder klischeehaft zu erzählen, wie Thüringer:innen entweder bald einen AfD-Stadtrat wählen oder dafür kämpfen, dass ihre Bratwurst immaterielles Unesco-Weltkulturerbe wird?

ARD – es ist kompliziert

Bei ARD aktuell in Hamburg legt man Wert darauf, bei "mittendrin" insgesamt überproportional häufig aus den ostdeutschen Bundesländern zu berichten – zumindest bezogen auf die Einwohner:innenzahl. Im vergangenen Jahr seien die meisten Ostdeutschland-Beiträge für "mittendrin" aus Sachsen (vom MDR) und Brandenburg (vom RBB) gekommen. Einen festgelegten Turnus für Zulieferungen von den Landessendern gibt es aber – erstaunlicherweise – nicht. (Sieht der ARD gar nicht ähnlich.)

Auf tagesschau.de existiert derweil zwar eine eigene "mittendrin"-Seite – auf der aber gar nicht alle gesendeten Reportagen verlinkt sind, sondern nur dann, wenn der zuständige Landessender auch einen Text dazu geliefert hat bzw. überhaupt eine "nonlineare Begleitung" vereinbart ist. Für MDR-Sendegebiete scheint das derzeit nicht zu gelten: Inhalte aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen fehlen aktuell.

Anders gesagt: Es ist kompliziert. (Sieht der ARD sehr ähnlich.)

Und beim MDR? Ist man auf Nachfrage augenblicklich im Verteidigungsmodus: Bis Ende September seien dieses Jahr bereits 13 "mittendrin"-Beiträge vom MDR gekommen "und es werden natürlich noch weitere folgen", erklärt ein Sendersprecher. Im vergangenen Jahr habe man mit 24 Minireportagen ARD-weit die zweitmeisten zugeliefert und "hatte damit entscheidenden Anteil daran, dass jeder dritte 'mittendrin'-Beitrag in Ostdeutschland spielt".

Intern prämierte "Exzellenz"

Woher dann die aktuelle Zurückhaltung kommt, sagt der MDR nicht – und ebenso wenig, warum Sachsen-Anhalt (mit bislang erst zwei "mittendrin"-Reportagen in 2023) so stark unterrepräsentiert ist. Aus Leipzig heißt es lediglich, "[e]ine Art Schlüssel, zu welchen Teilen einzelne Beiträge aus Regionen oder Ländern kommen müssen", gebe es laut Medienstaatsvertreag nicht.

Zudem seien "mittendrin"-Beiträge vom MDR "mehrfach prämiert" worden: Gerade erst habe ein MDR-Reporter "mit dem Tagesthemen-Award einen internen Preis der Redaktion für seine exzellente 'Mittendrin'-Reportage über einen Imbissbetreiber in Thüringen [bekommen], der sich gegen einen bekannten Rechtsextremisten engagiert", was "für die Qualität unserer Zulieferungen" spreche.

Na, dann herzlichen Glückwunsch zu Bratwurst und Rechtsruck in einem Thüringen-Beitrag; auch wenn man vielleicht dazu sagen muss, dass die Exzellenz womöglich größtenteils von einem drei Jahre alten, deutlich umfassenderen Deutschlandfunk-Beitrag abgeschaut werden konnte.

Anmoderation zu Tagesthemen mittendrin © Screenshot Das Erste Anmoderation zu einer exzellenten "Tagesthemen mittendrin"-Reportage aus Thüringen, dem Land von Bratwurst und Rechtsruck.

Zur Kooperation mit ARD aktuell erklärt der MDR, man arbeite "eng zusammen". "Die lineare Ausstrahlung und das Online-Ausspiel liegen in der Zuständigkeit der Tagesthemen. In einzelnen Fällen gibt es zusätzlich zum Beitrag auch einen tagesschau.de-Artikel bzw. eine Instagram-Story."

Mehr ostdeutsche Geschichten erzählen

Vielleicht ist die Nachzählerei aber auch egal, weil es von einer höchstens viermal pro Woche am Spätabend ausgestrahlten Regionalrubrik in den "Tagesthemen" ohnehin zuviel verlangt wäre, all das aufzufangen, was sonst an prominenter Stelle im Programm passieren müsste. Also: so wie in der zurückliegenden Woche am Montagabend, als das Erste zur besten Sendezeit die Reportage "Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen" seiner neuen "Tagesthemen"-Moderatorin Jessy Wellmer zeigte.

Die ist – im Auftrag von RBB und NDR – quer durch den Osten gereist, um auf dem Stadtfest und beim Bürger:innen-Gespräch ganz unterschiedlichen Leuten zuzuhören und zu fragen: Was steckt hinter dem Frust vieler Ostdeutscher? Bzw.: was ließe sich dagegen unternehmen? Das hat vor allem bei jungen Zuschauer:innen erstaunlich gut funktioniert.

Eine der Erkenntnisse, die sich Wellmer mit auf den Weg geben ließ, war: Auch die Medien stehen in der Verantwortung, mehr ostdeutsche Geschichten zu erzählen, um noch stärker zu verdeutlichen, in welch ungeheurem Ausmaß die deutsche Einheit in den neuen Bundesländern Biografienbrüche verursacht hat.

Aber sehr wahrscheinlich braucht es dafür mehr als alle paar Wochen fünf Minuten "Lebenswirklichkeit" mit Rechtsruck und Bratwurst.

Und damit: zurück nach Köln.

"mittendrin"-Reportagen laufen in der Regel viermal wöchentlich in den "Tagesthemen"; den besten "mittendrin"-Überblick gibt's auf YouTube, wo die Minireportagen in einer eigenen Liste zusammengefasst sind; "Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen" lässt sich in der ARD Mediathek ansehen.